Systemfrage

Man kann zurzeit weder eine Zeitung lesen oder einen Fußballtalk anschauen, ohne auf einen Experten zu stoßen, der vehement die Ansicht vertritt, dass Julian Nagelsmann als Bundestrainer eine Fehlbesetzung ist. Weil er ein „Systemtrainer“ ist, also ein Übungsleiter, der mit seinen Mannschaften über Monate hinweg komplexe Spielsysteme einstudiert, in denen jeder Spieler in absolut jeder Spielsituation weiß, was zu tun ist. Jürgen Klopp und Pep Guardiola sind typische Systemtrainer, und in der Tat gibt es faszinierend komplexen (und meist ziemlich erfolgreichen) Fußball zu sehen, wenn man einen Systemtrainer ein paar Monate (oder Jahre) in Ruhe arbeiten lässt. Auch Nagelsmann, das ist richtig, hat auf seinen bisherigen Trainerstationen so gearbeitet. Ein Bundestrainer, sagt man, kann nicht wie ein Systemtrainer arbeiten, weil ihm schlicht und einfach die Zeit fehlt, mit seinen Spielern ein System einzustudieren: Normalerweise sieht er seine Spieler nur alle paar Wochen für ein paar Tage, und die Turniervorbereitung recht nicht aus, um komplexe Spielsysteme zu vermitteln. Ich sehe das durchaus anders…

Wenn man sich nämlich von dem Gedanken verabschiedet, dass Spielsysteme hochkomplex sein müssen, um erfolgreich sein zu können, sieht die Fußballwelt gleich anders aus. Zerstörerische Systeme, beispielsweise, sind geradezu verblüffend einfach, erweisen sich aber im Wettbewerb als höchst effektiv. Wie oft haben sich Guardiola-Mannschaften am von Mannschaften wie beispielsweise Atletico Madrid angerührtem Beton die Zähne ausgebissen? Das Kloppsche Gegenpressing verliert schnell seinen Schrecken, wenn seine Spieler nicht in Situationen geraten, wo der Gegner sich passiv verhält.

Dass derartiges auch bei Turnieren möglich ist, hat kein geringerer als der ansonsten der Systemtrainiererei komplett unverdächtige Franz Beckenbauer 1986 bei der WM in Mexico unter Beweis gestellt. Dort war er mit einem Kader angereist, den man spielerisch gegen Favoriten wie Frankreich oder gar Brasilien absolut nichts zutraute. Beckenbauer machte aus seiner Not eine Tugend, ließ mit massierter Defensive (Vorstopper!) spielen, nach vorne ging’s überhaupt durch Prallen lassen oder Flankenläufe, und irgendwie würde Rudi vorne schon die ein oder andere Bude reinvöllern. Dieser erweiterte Rumpelfußball hat funktioniert. Im Halbfinale haben sich die Franzosen, die kurz zuvor in einem der besten Matches aller Zeiten die besten Brasilianer aller Zeiten besiegt hatten, an diesem Simpel-System komplett die Zähne ausgebissen. Und, wer weiß, wenn „Suppenkaspers Gurkentruppe“ (Uli Stein) sich nach dem Ausgleich im Finale etwas cleverer angestellt hätte, wäre sogar der Titel drin gewesen.

Zurück zu Nagelsmann. Ich denke nicht, dass die ärgerliche Performance der Nationalmannschaft in den letzten beiden Spielen auf zu viel Systemtrainiererei zurückzuführen ist, es ist eher zuwenig System im Spiel. M. E. hat Nagelsmann eher versucht, den typischen „moderierenden“ Bundestrainer zu geben und gehofft, dass das spielerische Potenzial seiner Leute (wir haben ja derzeit keine Gurkentruppe wie 86, in unserem Kader stehen lauter CL-Final-Teilnehmer!) ausreicht.

Eigentlich sollte es einem Trainer wie Nagelsmann doch möglich sein, die hochgelobte (und oft überschätzte) Komplexität der Spielsysteme über Bord zu werfen und ein einfaches, machbares System zu entwickeln, mit dem man auch derzeit erfolgreichere Mannschaften ziemlich ärgern kann. Herrgottsack, im Kern ist Fußball ein einfacher Sport. Auch einfache Systeme können erfolgreich sein. Siehe 86.

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Eine Antwort zu Systemfrage

  1. AvatarRobert Hill sagt:

    Chris, schön geschrieben, interessanter Ansatz. Das Problem dabei: Die aktuelle Spielergeneration hat sich von Fußball als Mannschaftssport verabschiedet.

    In Zeiten, in denen jeder E-Jugend-Kicker mit komplettem Management zum Training erscheint und sich von seinem persönlichen Zeugwart die Schuhe schnüren lässt, während seine Berater sich um die Verträge kümmern, sehe ich wenig Hoffnung auf bessere Zeiten.

    Bezeichnend, dass es einen 100 Mio teuren Engländer braucht, der so erfolgreich ist, weil er mannschaftsdienlich spielt und sich offenbar auch abseits des Platzes zu verhält.

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