In der Rasierloge vom „alten weißen Mann“ lernen – die Western mit James Stewart aus den fünfziger Jahren

In den sechziger Jahren war ich samstags und sonntags (bei den damals üblichen „Jugendvorstellungen“) Stammgast in der „Rasierloge“1 der Kinos meiner Heimatstadt. In diesen Jugendvorstellungen konnte man als junger Mensch für 1 DM (Rasierloge) bzw. 1,50 DM (Rest des Kinos) einen Film anschauen. Das waren meist nicht gerade Meisterwerke der Filmkunst. Ich hab mir da fast alle Tarzanfilme mit Lex Barker, Gordon Scott, Jock Mahoney und Johnnie Weissmüller reingezogen. Und Western gab’s natürlich, jede Menge Western. Meistens ältere, aus den 40er und 50er Jahren, die nicht so viel Verleihgebühr kosteten. Die hab ich mir trotzdem angeschaut, das waren oft ziemlich gute Filme, und das Preisleistungsverhältnis hat gestimmt. 1 DM für den Platz in der Rasierloge, zwanzig, dreißig Pfennig für Süßkram, prima Nachmittag. Einen Film hätte ich mir aber beinahe nicht angeschaut, und das wäre ein großer Fehler gewesen…

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
Video-Link: https://youtu.be/plcO6aJZNeQ

Der Film war „Der Mann aus Laramie„, und ich hatte erst keinen Bock, ihn mir anzuschauen. Ich hatte die Vorschau und die Bilder im Schaukasten gesehen und wusste: Die Hauptrolle spielte ja ein alter Sack2 mit grauen Haaren! Warum sollte ich 1 DM Taschengeld ausgeben für einen Typen, der vermutlich kaum noch aufs Pferd kam und zum Schießen eine Brille aufsetzen musste? Nee. Gottseidank hab ich’s mir nochmal anders überlegt, sonst hätte ich meine erste Begegnung mit dem Western-Darsteller James Stewart und eine lebenslange Bewunderung für dessen in den fünfziger Jahren gedrehte Western unnötig hinausgeschoben. „Der Mann aus Laramie ist ein kerniger, mordsspannender vielschichtiger Western. Und Stewart? Alter Sack? Meine Herren! Sein Stuntman hatte wenig zu tun während der Dreharbeiten, das hat man gesehen. Und in dem Film begriff ich sofort, dass „alt“ auch „erfahren“ bedeutet. Und dass die Westen, die ich vorher in den Jugendvorstellungen gesehen hatte,  vielleicht nicht die besten gewesen waren. Denn dieser Will Lockhart, den Stewart da spielte, das war ein Westernheld, wie ich ihn nicht kannte. Ein widersprüchlicher Kerl, der auch mal Angst hatte und bösartig werden konnte. Ein Pragmatiker, dem sowas wie Edelmut fremd war, der seinen Bruder rächen wollte und dafür einiges zu tun bereit war. Ein faszinierender, vielschichtiger Mann mit Erfahrung, kein alter Sack. Und ein toller Western, den ich – fast siebzig Jahre, nachdem er gedreht wurde – immer noch gern anschaue und weiterempfehle.

Wie beinahe alle Western, die James Stewart in den fünfziger Jahren – meist mit Anthony Mann – gedreht hat, zum Beispiel „Nackte Gewalt„, „Winchester 73„, „Über den Todespass„, „Meuterei am Schlangenfluss„. und, natürlich, „Der gebrochene Pfeil3, der Film, der die Darstellung der amerikanischen Ureinwohner in Hollywood für immer verändert hat. Mit diesen Filmen hat Stewart in den fünfziger Jahren beinahe im Alleingang das Western-Genre verändert. Weg von eindimensionalen Protagonisten und simplen Geschichten, hin zu glaubwürdigeren, psychologisch fundierten Charakteren. In diesen Filmen vollbrachten keine berittenen Pappkameraden austauschbare Heldentaten, hier versuchten erwachsene Männer das durchzusetzen, was sie für richtig hielten. Und dieses „richtig“ hatte immer eine gewisse Ambivalenz, wie jeder Mann weiß, der das Privileg hat, älter werden zu dürfen.

Ich hab mir damals alle diese Filme mit großem Vergnügen in der Rasierloge angeschaut. James Stewart hat mich nicht nur als Filmheld begeistert, ich hab von ihm auch viel über das Erwachsenendasein erfahren. Über das Älterwerden. Dass das eben auch heißt, dass man sich mit den Jahren einen eigenen Kompass zulegt, den man beim Navigieren durchs eigene Leben zurate ziehen kann. Und dass dieser Kompass mit den Jahren immer hilfreicher wird. Toller Mann, tolle Filme, die man heute noch gut anschauen kann. Als alter Sack.

  1. So nannte man damals die ersten zwei, drei Reihen im Kino, weil die so dicht vor der großen Leinwand standen, dass man wie beim Barbier das Kinn nach oben recken musste, wenn man zuschauen wollte
  2. So war früher die politisch korrekte Bezeichnung für „alter, weißer Mann“. James Stewart war, als er den Film drehte, 46 Jahre alt. Für den zehnjährigen Chris ein unfassbar alter Mann.
  3. bei dem nicht Anthony Mann, sondern Delmer Daves Regie geführt hat.
Markiert mit Anthony Mann, Film, James Stewart, Kino, Western.Speichern des Permalinks.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.
Bitte nicht wundern: nach dem Absenden verschwindet Dein Kommentar einfach und wird erst nach Freischaltung durch uns sichtbar -- also nicht mehrfach absenden!