Das männliche Zitat der Woche (CXXV): Victor Auburtin

Abbildung: Public Domain, via Wikimedia Commons

„Soll der Mensch Alkoholiker sein oder Antialkoholiker? Das ist eine der großen Fragen, die das Zeitalter bewegen. Auf diese Frage gibt es nur eine vollständig befriedigende Antwort: man soll beides sein. Selbstverständlich nicht gleichzeitig, das geht leider nicht, aber nacheinander und abwechselnderweise.

Nämlich so: der Streit kommt nur daher, daß die Gegner einander nicht kennen. Der Temperenzler weiß nichts von der Festlichkeit eines Glases Mosel, so am Sonntagstisch genommen wird, deshalb schmäht er den Wein. Der Alkoholiker seinerseits hat nie erfahren, wie ein wochenlanges Trinken von Lindenblütentee auf die Magensäfte, Herzklappen usw. wirkt, und macht sich über die Mäßigkeit lustig. Wenn man die Sache abwechselnd betreibt, lernen wir die Vorzüge beider Systeme schätzen, und der Streit ist aus.

Ich beispielsweise trinke meistens ziemlich. Aber alle Vierteljahr mache ich einen Ruck und höre auf; und dann ist es erstaunlich, wie sich mit diesem Ruck das Leben und überhaupt das ganze Weltall verwandelt. Die tägliche Straße ist kürzer geworden. Die Treppe, die du ächzend stiegst, springst du jetzt mit einigen Sätzen hinauf; und du selbst bist in den Kleidern um Zentimeter gewachsen. Freilich ist der Tag etwas leer; aber spät abends nach aller Arbeit bist du noch klar genug, um ein schwieriges Kapitel Montaignes zu verstehen und in allen seinen syntaktischen Fasern zu genießen.
Und nachdem dieser Zustand genügend gedauert. …oh, welch ein Prangen ist’s, wenn das erste Glas Bordeaux über die ausgedörrten Schluchten des Innern niedergeht; junge Keime sprießen rührend, hastige Blumen entfalten sich, und die Baumwipfel des Traums wiegen sich regenschwer. Auf jeden Fall steht es historisch fest, daß die Griechen getrunken haben wie die Bürstenbinder und deshalb das geistig fruchtbarste Volk der Zeitläufte gewesen sind. Und als Sophokles starb, setzten die athenischen Stadtverordneten auf sein Grab ein Bronzebild des Trinkgottes Dionysos, den sie als den Vater der Tragödie und aller Kunst anzuschauen sich mit Recht vermaßen.

Dagegen ziehen die Amerikaner das Kauen von Gummi vor. Man steckt ein Stück Hartgummi in den Mund und kaut es, was eine erfreuliche Zunahme des Speichelflusses zur Folge hat. Wer eine Pause machen will, der holt das Gummistück aus dem Munde hervor und klebt es unter die Tischplatte, von wo er es später wieder nehmen und aufs neue genießen kann.

Doch ist dabei Vorsicht geboten; es kommt häufig vor, daß man versehentlich ein fremdes Gummistück nimmt, das ein Geschäftsfreund unter der Tischplatte vergessen hat.“

Victor Auburtin

(mit herzlichem Dank an die Fliegenden Bretter)

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