Paris-Roubaix: L’Enfer du Nord

Der Weg zur Hölle ist gepflastert.

Der Weg zur Hölle ist gepflastert.

Die Hölle des Nordens. Klar, bei den beschissene Pflasterpassagen, Matsch und Schlamm. Das sind schon höllische Bedingungen, bei denen hier gefahren wird. Und gefahren wird immer. Es sei denn, es ist gerade Weltkrieg. Hinzu kommt: Anfang April kann das Wetter noch “durchwachsen” sein. Sean Kelly (Sieger 1984 und 1986) meint sogar: ”A Paris-Roubaix without rain is not a true Paris-Roubaix. Throw in a little snow as well, it’s not serious.”
Selbstverständlich. Eintagesklassiker gibt es wie Sand am Strand. Auch bei anderen Rennen wird über Kopfsteinpflaster gefahren. Aber bei Paris-Roubaix ist es ein anderes Pflaster.

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Video-Link: http://www.youtube.com/watch?v=lnoyEYn0BQk

Bei der Flandernrundfahrt werden viele der Kopfsteinpflasterpassagen auch im Alltag von stinknormalen Autos befahren, von der Straßenmeisterei gepflegt. Bei Paris-Roubaix sind es Holperpisten, Wirtschaftswege, die vielleicht noch von Bauern mit Traktoren genutzt werden. Andere Passagen gibt es nur noch, weil sie von Fans des Rennens, den Kopfsteinknechten, den forçats du pavé, halbwegs in Schuss gehalten werden. Nebenbei: Reichlich Pflaster macht sich bei diesem Rennen auch im Verbandstäschchen gut.

L’Enfer du Nord ist ein schönes Stück Nostalgie und irgendwie bekloppt. Ziel ist zwar Roubaix – gestartet wird aber nicht, wie der Titel vermuten lässt in Paris. Das war einmal. Los geht’s auf dem Pflaster vor dem Schloss in Compiègne. Ein erster Vorgeschmack.

Paris-Roubaix ist ein aberwitzig in die Länge gezogenes Querfeldeinrennen. Am besten noch bei Regen. Als gäbe es keine Mountainbikes, keine vollgefederten Rahmen, keine 160 mm Gabeln, keine geländegängigen Reifen und keine hydraulischen Scheibenbremsen. Nein. Diese Rutschpartie muss mit Straßenmaschinen gefahren werden. Gebremst wird selbstverständlich mit herkömmlichen Seilzugbremsen auf der Felgenflanke. Rutscht besser im Schlamm. Knüppelharten Carbonrahmen und daumenbreiten Systemlaufrädern sind Pflicht. Fädeln wunderbar zwischen den Pflastersteinen ein. Bloß kein Profil. Was sollen wir mit Grip? Möglichst noch bockenstramm aufgepumpt – man will ja keinen Verlust beim Rollwiderstand in Kauf nehmen. Und dann wundern, dass es am ersten Kopfsteinpflasterabschnitt gleich einen Platten gibt und der Materialwagen im Gedränge auf sich warten lässt. Beklopptensport erster Güte. Immerhin der begleitende Tross fährt auf Enduros für verwacklungsarme Bilder.

Wer kann Paris-Roubaix gewinnen? Eigentlich nur ein Belgier. Radbeherschung à la bonheur. Das haben die Belgier drauf, weil sie den ganzen Winter lang auf Schnee und Eis mit Cyclocross-Rädern Rennen austragen. Roubaix liegt derart nah an Belgien, dass es fast ein Heimspiel ist. Und: Die Belgier können Rennen lesen. Das hat Nick “Kabouter” Nuyens am letzten Wochenende bei der Flandernrundfahrt bewiesen. Wer bei Rennkilometer 200 zur Tankstelle gefahren ist, um Bier zu holen, weil Cancellara schon 1 Minute vorne lag und Sylvain Chavanel es auf den letzten Metern gegen den Schweizer eh nicht hätte schaffen können, hat sich um ein hervorragendes Finale gebracht.

Die Frühjahrsklassiker sind nur was für echte Kerle. Bergflöhe und Taktierer können auf dem Sofa bleiben. Hier geht es nur um eins: Den Sieg. Die Buchmacher haben für Paris-Roubaix den Schweizer Fabian Cancellara vorn, aber an Nummero zwo steht Tom Boonen, und der ist Belgier. Gehandelt wird auch noch der Norweger Thor Hushovd, aber dann kommt lange nix. Geheimtipp von mir: George Hincapie. Er ist zwar schon ein alter Sack, hat aber mit BMC ein sehr starkes Team im Nacken. Er war schon x-fach unter den Top-Ten und viele Versuche hat er nicht mehr.

Die Bierversorgung sollte am Samstag spätestens gegen Mittag abgeschlossen sein. Das Fahrerfeld startet zwar schon um 10:10 Uhr rollert dann zunächst rund 80 Kilometer durch die Picardie bevor das Departement Nord erreicht wird. Richtig zur Sache geht es erst ab Troisvilles so gegen 13 Uhr. Hier beginnen die insgesamt 27 Sektoren. Für die 109. Ausgabe des Rennens wurden drei Passagen neu aufgenommen. Drei sind raus geflogen. Gegen 14:30 Uhr wird dann die Schneise von Arenberg passiert, die sich in der Vergangenheit oft als rennentscheidend erwiesen hat. Fünfte Kategorie – mehr geht nicht.

http://www.youtube.com/watch?v=IWIqnm9iGQ0

Viele Favoriten dürften jetzt schon ohne Helfer fahren. Die Streckenführung wurde in diesem Jahr etwas geändert. Die Distanz von der Trouée d’Arenberg‎ zum Vélodrom in Roubaix ist nun mit 80 Kilometern 12 Kilometer kürzer als im vergangenen Jahr.

Pflaster der Kategorie fünf lauert dann noch einmal bei Rennkilometer 242 in Gruson beim Restaurant L’Arbre von Yorann Vandriessche, wo der Kurs einen schweinegefährlichen Linksknick macht. Die Adresse des Restaurants lautet übrigens “Pflasterstein Jean-Marie-Leblanc 1” – benannt nach dem ehemaligen Direktor der Tour de France.

So gegen 17 Uhr erreicht die rollende Apotheke dann hoffentlich das Vélodrom. Siegerehrung und dann ab zum Duschen. Aber was sind das für Duschen… Trostlose Beton-Duschen mit ekelerregenden Armaturen. An den Wänden hängen kleine Messingschilder mit den Namen der Sieger. Tom Boonen kann diesen Räumlichkeiten noch etwas abgewinnen: “When I stand in the showers in Roubaix, I actually start the preparation for next year.”

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Video-Link: http://www.youtube.com/watch?v=xq6VFedi9XQ

Karsten Migels und Gerhard Leinauer kommentieren auf Eurosport.

Carsten Sohn, Jahrgang 70, arbeitet als Blogger und Tagedieb im Mitzwinkel, dem hintersten Winkel des Internet. In seiner Freizeit betätigt er sich als Hobby-Koch und Fahrrad-Evangelist.

Foto: Tetedelacourse under Creative Commons 2.0

Vater und Sohn und die Tour

Faszination Radsport

Faszination Radsport

Die Saison im Straßenradsport ist gestartet. Endlich. Klar, einige Profis waren schon Downunder unterwegs, haben das komplette Straßennetz bei den Scheichs in Katar unter die Systemlaufräder genommen oder sind beim Étoile de Bessèges Anfang Februar in den Cévennen an den Start gegangen. Paris Nizza läuft.
Doch richtig los geht es erst jetzt Mitte März mit La classicissima Mailand-San Remo am 19. 3. 2011. Dann kommt es Schlag auf Schlag: Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix und Lüttich-Bastogne-Lüttich. Dauphiné Liberé und selbst der Giro sind aber nur Aufgalopp für die prestigeträchtigste aller Rundfahrten: die Tour de France – Le Tour.
Jedes Jahr aufs Neue ist Frankreich die ideale Kulisse: Ein ganzes Land wird zur Arena. – Die Flachetappen über die endlosen Ebenen des Landes. Die halsbrecherischen Sprintankünfte. Windkante fahren in der Bretagne. Vorbei an den Étangs des Mittelmeers. Dann hinauf auf die Tribünen des Wahnsinns: Die Alpen und die Pyrenäen. Erst, wenn der Brunnen auf den Champs-Élysées über die Bildschirme flimmert, ist es geschafft.

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Besonders gern habe ich die Tour mit meinem Vater geguckt.
Schade, dass die öffentlich-rechtlichen Sender die Tour nicht mehr übertragen. Die kreuzdämlichen „der Helikopter überquert hier ein Schloss“-Kommentare „hier sehen wir Weinfelder, von einem guten Tropfen, der in dieser Gegend wächst“-Phrasen haben meinen Vater und mich immer zu schallendem Gelächter hingerissen.
Immer wieder gern: Emig zum im Ziel vor sich hin röchelnden Ullrich: „Jan, wie fühlen Sie sich?“ Überhaupt Emig. Hier ein kleiner Abriss aus dem Buch der Radsportzitate: „Wer vorne stürzt, fährt sicherer.“ – „Rechts sehen Sie jetzt ein paar Kühe, die gerade aus dem Bild fahren.“
Harald Schmidt über Emig: „Jetzt läuft die Tour de France. Die meisten Fahrer dopen sich nicht, um das Rennen durchzuhalten, sondern die anschließenden Interviews mit Jürgen Emig.“

Im Gegensatz zu den öffentlich-rechtlichen Reportern konnte mein Vater treffsicher kommentieren.
1989 (LeMond 8 Sekunden vor Fignon): „Das machen die Franzosen auch nicht noch mal – Einzelzeitfahren auf der letzten Etappe.“

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Video-Link: http://www.youtube.com/watch?v=AyvwtOQYQ-E

1995 (Indurain Numero 5): „Der geht nie aus dem Sattel. Das ist der Trick!“

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2000 (Ullrich gegen Armstrong): „Der Amerikaner ist zu stark. Das wird nix. Ullrich ist einer wie Ampler. Der gewinnt maximal die Friedensfahrt.“

Die Tour ist deshalb das größte Sportereignis auf dem Planeten, weil sie eine Seele hat. Tourgucken ist Männersache. Der Vater guckt mit dem Sohn und auch dessen Vater hat sie schon mit seinem Vater gesehen. Und Jahr für Jahr werden die alten Kamellen erzählt:
„Wusstest Du eigentlich, dass Joop Zoetemelk die Tour sechzehn Mal gefahren ist, sieben Mal auf dem Podium gestanden hat und nie gewonnen hat? – Ja, die Holländer haben starke Fahrer, obwohl sie keine Berge haben.“ – „Und was ist mit dem Cauberg?“ – „Is’ kein richtiger Berg. Galibier, Mont Ventoux und Tourmalet. Das sind Berge!“
„1913 sind sie auch schon den Tourmalet runter gebrettert. Und dabei hat es bei Eugène Christophe die Gabel zerlegt. Der musste dann 14 Kilometer ins nächste Dorf laufen, um das Dingen da zu schmieden. Und er lag zu dem Zeitpunkt vorne. Und die Kommissare haben ihm auch noch eine Strafminute eingeschenkt, weil ein Junge in der Schmiede den Blasebalg gezogen hat – das muss man sich mal vorstellen.“

Außerdem waren die Nachmittage schön verplant und ausgefüllt.
Meine Mutter kam irgendwann kurz nach drei, damals noch mit Tierheimhund Moritz, aus dem Wald (wir eigentlich im Halbschlaf auf ZDF – keine laute Werbung – aber schnell zu Peter Woidt auf Eurosport rüber geknipst und kundig mitkommentiert): „Hängt Ihr schon wieder vor der Flimmerkiste und guckt Euch den Quatsch an?“ – Wir scheinbar ärgerlich: „Psst!“
Paar Minuten später mein Vater: „Mama? Können wir ein Tässchen Kaffee haben?“ – Ich: „Und das Eis!“ Serviert wurde neben dem Pott Kaffee ein phantastisches Eis aus dem nördlichen Aldi-Tempel, dessen Hörnchen innen mit Schokolade gegen Durchsuppen glasiert war und das aus Schoko-Vanille-Eis mit irgendeinem leckeren Schnaps bestand – ist leider schon lange nicht mehr im Sommersortiment.

Wenn Didi Senft eingeblendet wurde, gab es ein Pils. Das war dann mein Part. „Nimm aus dem Kühlschrank im Keller – die sind richtig kalt.“ Bei Bergankunft konnten es auch mal zwei werden.

Warum die Tour immer noch fasziniert? Ein Kommentar bei Youtube sagt alles: “As they all cheated it’s still impressive.”

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Video-Link: http://www.youtube.com/watch?v=6q38Gyjv4EE

Als die Krankheit meinen Vater schon fest im Griff hatte und von Kommunikation schon keine Rede mehr sein konnte, schellte es trotzdem um drei bei mir an der Tür, das Eis wurde aus dem Kühler gekramt … und zehn Kilometer vor dem Ziel – ein Bier.

Carsten Sohn, Jahrgang 70, arbeitet als Blogger und Tagedieb im Mitzwinkel, dem hintersten Winkel des Internet. In seiner Freizeit betätigt er sich als Hobby-Koch und Fahrrad-Evangelist.

Foto: Dieter Schütz / pixelio.de