Aneignung ist überall

give and take, traffic signs, donation

Photo by geralt on Pixabay

Derzeit wird mal mal wieder die Sau, der man „kulturelle Aneignung“ auf die Kotelette-Reihe gesprayt hatte, durchs elektrische Dorf der sozialen Netzwerke getrieben. In der Schweiz hat ein Lokal versucht, ein Konzert mit einer Band zu veranstalten, deren Mitglieder Dreadlocks trugen und Reggae spielten, aber nicht in Trenchtown gebürtig waren. Todsünde. Empfindsame Naturen im Publikum wisperten empört „kulturelle Aneignung“ und schüttelten so lange die zopflosen Köpfe, bis der Wirt, um seine lieben Stammgäste vor einem multikulturellen Schleudertrauma zu bewahren, das Konzert abbrach.

Soweit, so grottendämlich. Denn die Annahme, kulturelle Aneignung wäre etwas Schröckliches, dass niemandem gestattet werden darf, hat nicht nur ein deutlich rassistisches Geschmäckle (man sortiert Menschen in der Tat nach ihrer Herkunft, wenn man ihnen verbieten will, sich von Künstlern anderer Kulturkreise inspireren zu lassen), es liegt ihr auch ein komplettes Unverständnis darüber zugrunde, wie Kultur entsteht, wie Künstler Kunstwerke erschaffen. Kein Kreativer schafft „aus sich selbst heraus“. Künstler werden tagtäglich von vielerlei Dingen beeinflusst, hauptsächlich natürlich von Werken ihrer Kollegen. Jeder Musiker hört sich ja an, was seine Kollegen so treiben, jeder Schreiber liest das, was andere Schreiber so hervorbringen, und auch Maler, die Gemäldegalerien und das Internet meiden, kenne ich nicht. Und das, was der Künstler bei seinen Kollegen sieht, hört und liest, das sammelt er, das verarbeitet er, das benutzt er, um daraus etwas Neues zu schaffen. So arbeiten Künstler seit vielen tausenden von Jahren, und dieser Arbeitsweise verdanken wir die grandiosesten Kunstwerke. Und seit die Welt durch moderne Transport- und Kommunikationsmittel kleiner und die Inspirationsmöglichkeiten vielfältiger geworden sind, sind auch die Bücher, die wir lesen, die Musik, die wir hören und die Bildende Kunst, die wir uns anschauen, vielfältiger geworden. Die moderne Rock und Pop-Musik hätte es ohne den Blues nicht gegeben, den Blues hätte es ohne die afrikanischen Wurzeln derjenigen, die ihn erfunden haben, nicht gegeben, und letztlich basiert sogar der Reggae aus Jamaica auf kultureller Aneignung.

Und das soll irgendwie Scheiße sein? Ihr habt sie doch nicht mehr alle. Kulturelle Aneignung ist das Beste, was uns seit vielen tausend Jahren passiert ist.

Markiert mit Ideologie, Kulturelle Aneignung, oberschlaue Idioten, Twitter-Idiotie.Speichern des Permalinks.

4 Antworten zu Aneignung ist überall

  1. AvatarGernmalwain sagt:

    Aus der Seele gesprochen. Wenn heuer wieder Oktoberfest in MUC ist, mosern wir dann alle Trachtenträger, die von außerhalb des königlich bayrischen Kulturkreises reinschneien, als kulturelle Aneigner an ? Und auch gleich die Salontiroler , die den Unterschied zwischen Festtags- und Alltagsgwand nicht kennen ? Am besten gleich alle rausschmeissen, da wäre dann ganz schön Platz auf der Theresienwiese:-)
    P.S. Bis wiet in die 90er erkanntest Du den Münchner an Jeans und Hemd auf der Wiesn, sog. leichter Bieranzug.

  2. AvatarRalf Stiegler sagt:

    Das erinnert mich, dass eine Sängerin bei einer FFF-Veranstaltung ausgeladen wurde, weil sie ebenfalls Rastafari-Locken hatte.
    Sie könne natürlich gerne auftreten, wenn sie sich zuvor die Haare abschneiden würde…
    https://www.spiegel.de/politik/deutschland/fridays-for-future-laedt-musikerin-ronja-maltzahn-wegen-dreadlocks-von-demo-aus-a-631b6b83-9778-4a04-aa62-e3b85e713520

    Lieber Gott lass Hirn regnen!

  3. AvatarPan Jędrusz sagt:

    Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, das wir hier in den deutschsprachigen Clownsländern, stalinorgelgleich mit Nebelkerzen eingedeckt werden, damit wir völlig orientierungslos auf die uns umzingelnden Idioten einschlagen, und uns dabei die eigentlichen Gegner und Gefahr völlig vom Schirm gehen.
    Natürlich ist die allgemeine Verblödung sehr weit fortgeschritten und es ist nicht völlig auszuschließen, das sie der alleinige Grund für all diesen Hirnschiss ist, der uns derzeit umgibt.
    Aber so richtig kann ich das nicht glauben.
    Eher lachen sich irgendwo ein paar Nadelstreifentypen scheckig, das wir uns mit diesem Blödsinn beschäftigen. So wie mit Layla, Fußball (m/w/d) und den ganzen anderen Nebenkriegsschauplätzen.

    • Ja, natürlich. Die identitären Kreise, von denen der kulturelle Aneignungskram ausgeht, betreiben fast ausschließlich Symbolpolitik, nicht zuletzt, weil da das Fordern von Änderungen bereits als Erfolg verkauft werden kann, ohne dass man sich um die (immer mühsame) Durchsetzung dieser Änderungen kümmern müsste.

Schreibe einen Kommentar zu Chris Kurbjuhn Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.
Bitte nicht wundern: nach dem Absenden verschwindet Dein Kommentar einfach und wird erst nach Freischaltung durch uns sichtbar -- also nicht mehrfach absenden!