[Gedanken beim Rasieren] Was bleibt?

Peggy_Marco / Pixabay

Zehn Tage dauert jetzt der zweite Lockdown, und wenn ich morgens beim Rasieren in den Badezimmerspiegel und voraus in den kommenden Tag schaue, fühle ich mich seelisch schon ziemlich angeknabbert. Eigentlich fehlt mir ja nur wenig. Ich hab Arbeit, ich hab meine Frau, ich hab ein schönes Zuhause… darf ich mich wirklich beklagen? Ich finde ja, denn das „Wenige“ was mir fehlt, fällt doch ziemlich ins Gewicht. Auf mein wöchentliches Kartenspielen mit meinen Freunden muss ich zum Beispiel verzichten, und das ist eben nicht nur Zockerei und Ausrede, sich ein paar Bier einzufüllen. Das ist auch menschlicher Austausch, von neuen Dingen erfahren, die nicht in Zeitung, TV und Internet vorkommen und Kommunikation, den eigenen Standpunkt unmittelbar mit dem anderer Menschen abgleichen. Das war mir wichtig und fehlt mir sehr.

Was ich ebenfalls vermisse: Abends ausgehen. Schönes Essen im Restaurant, dann ins Kino oder ins Theater, hinterher noch ein Absacker in der Kneipe um die Ecke… das war fast wie ein kleiner Urlaub, mitten in der Woche. Überhaupt, kleiner Urlaub: Am Wochenende einfach mal in den Zug setzen, losfahren, irgendwohin ins Blaue, neuen Ort erkunden oder bekannten Ort nochmal anschauen, spontan da bleiben, wenn im Hotel ein Zimmer frei ist… macht man ja auch nicht sooo oft, aber allein die Tatsache, dass das zur Zeit nicht geht, macht – zumindest mir – kein gutes Gefühl.

Aber was hilft’s, das Virus hat die Muskeln spielen lassen und uns gezeigt, wie stark es ist. Nur, wenn wir auf Dinge verzichten, können wir die Infektionen verlangsamen und Zeit gewinnen, bis die wärmere Zeit und die Impfstoffe kommen. Was uns bleibt, sind kleine Inseln im Alltag, auf denen wir auf nichts verzichten müssen. Zu denen gehört für mich die morgendliche Nassrasur.

Bei meinem kleinen täglichen Wellness-Ritual muss ich tatsächlich auf gar nichts verzichten. Irgendeine Form des Verzichts bei der Rasur hilft weder der Allgemeinheit noch mir, im Gegenteil: diese kleine Insel Luxus, bei der ich weder an guter Seife, scharfen Klingen oder angenehmem Aftershave sparen muss hilft mir, den Verzicht auf andere Dinge besser zu ertragen. Noch nie war die Rasur so wertvoll wie während des Lockdowns.

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Eine Antwort zu [Gedanken beim Rasieren] Was bleibt?

  1. AvatarThomas sagt:

    Mir geht es da ganz ähnlich. Ich vermisse viele der Dinge, die für mich einen „normalen“ Alltag ausmachen, die Runde Billard mit meinen Kumpels, mit meiner Frau spontan mal zum Italiener um die Ecke zum Essen gehen, solche Dinge halt. Und ja, ich vermisse sogar mein Büro, das Dauerarbeiten im Homeoffice nervt, weil bei mir so die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen – obwohl man ja andererseits dankbar sein muss, von daheim aus weiterarbeiten zu können und sein Gehalt zu bekommen und nicht, wie so viele, in Existenznot zu geraten.
    Ich persönlich sehe die Gesamtsituation eher fatalistisch und ärgere mich nicht über das, was nicht geht, sondern gemiesse das, was geht und freue mich auf das, was irgendwann mal wieder gehen wird. Und die tägliche Nassrasur ist ein schönes, uneingeschränkt pandemietaugliches Ritual, an dem ich mich auch in Zeiten wie diesen tagtäglich erfreue.

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