Über Ohnmacht

Der (fach)wissenschaftlich vernachlässigte Gegenbegriff oder das Antonym von Macht ist Ohmacht. Etymologisch, von der geschichtlichen Wortbedeutung her, wird das Substantiv oder Hauptwort umschrieben als Bewußtlosigkeit, Schwäche, Machtlosigkeit. Entsprechend bedeutet das Eigenschaftswort oder Adjektiv ohne Bewußtsein, kraft- und machtlos, nicht handlungsfähig. Damit geht es auch um jeweils fehlendes Bewußtsein und blockierte Handlungsfähigkeit.

Zu Beginn der 1930 Jahre forderte der Linksintellektuelle Walter Benjamin (1892-1940) eine marxistische Theorie von der „Entstehung des falschen Bewußtseins“ – auch um der massenwirksamen Faszination des sich nationalsozialistisch nennenden deutschen Faschismus und seiner „Ästhetisierung des Politischen“ (1936) wirksam begegnen zu können. Ernst Bloch (1885-1977), der deutsche „Philosoph der Oktoberrevolution“ (Oskar Negt) und Vordenker des Nicht-Mehr-Seins im faktischen Realen und des Noch-Nicht-Seins im real Möglichen, der den „alten Menschheitstraum“ von Freien und Gleichen als Geist der Utopie „philosophisch subtilisiert[e] zu einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft, einer visionären Utopie“ (so René König), nannte bereits 1924 den seit Anfang 1933 zwölf lange Jahre lang amtierenden letzten deutschen Reichskanzler „den schiefen Statthalter der Revolution.“

In seinem zweiten Schweizer Exil veröffentlichte Bloch on der Exil-Zeitschrift „Die Weltbühne“ seine theoretische Leitstudie zu Auffälligkeiten der damaligen deutsch-bürgerlichen Gegenwartsgesellschaft (vor allem Ungleichzeitigkeiten in der gesellschaftlichen Entwicklung) und kommentierte auf dieser Grundlage auch selbstkritisch (1936):

„Die Linke hat das wahre Bewußtsein, aber auch daß es ein falsches, sich sperrendes Bewußtsein gibt, ist wahr. […] Daher schlugen die Erkenntnisse der fortgeschrittensten Klasse in all ihrer Wahrheit hier nicht ein. […] Daher konnte unter den Betrogenen […] die Lüge derart wahr wirken, die Wahrheit blieb derart ungesehen. Daher reüssierten die (höchst gleichzeitigen) Betrüger, hatten die ungeheuerliche Zahl der Betrogenen und Betrügbaren zur Verfügung, die nationalsozialistische Massenbasis aus ungleichzeitigem Widerspruch.“ Politisch zugespitzt formulierte Bloch (1937): „Die Nazis haben betrügend gesprochen, aber zu Menschen, die Sozialisten völlig wahr, aber von Sachen; es gilt nun, zu Menschen völlig wahr von ihren Sachen zu sprechen.“

Nach erneutem Weltkrieg, Nachkrieg, Wiederaufbau, Rekonstruktionsperiode und ihrem Ende wurden im neuen deutschen Wohlfahrtsstaat Hinweise Benjamins wieder aufgenommen: Reinhard Opitz skizziere Mitte der 1970 Jahre seine These der Bewußtseinsfalsifikation 1. Daran anschließend, habe ich Ende der ganzdeutschen Nullerjahre die inzwischen empirisch vollständig entwickelte wirkmächtige „Verdummungsindustrie“ mit ihren „Verblendungs-, Verkehrungs- und Umwertungsmechanismen zur strategischen Verstärkung der durch den Warenfetisch jeder kapitalistischen Gesellschaft immer schon gegebenen spontanen Mystifikation als ´gesellschaftliche Gefolgschaft´ 2 als einen wichtigen Gesichtspunkt von Ohnmacht benannt. Inzwischen prangern auch andere Autoren die „Fabrikation von Stupidität“ (Georg Seßlen) und die „massenmedial gesteuerte Volksverblödung“ (Jost Hermand) als Merkmal der gegenwärtigen deutschen Gegenwartsgesellschaft an.

Auch wenn es nicht so sein muß wie der zeitweilig bekannter deutsche Autor Stefan Hermlin (1915-1997) behauptete:

„Unbezähmbar ist der Drang, bei den Stärkeren zu sein“ –

Ohnmachtserfahrungen wollen ebenso bedacht werden wie historisch-kulturelle Umstände, gesellschaftlich-politische Verhältnisse und unterschiedlich-zukünftige Perspektiven3.
. Auch diese sind bekanntlich im Hegel´schen Sinn immer konkret. Und auch auf sie trifft zu, daß erstens „menschliche Handlungen“ in den „Lebensbedingungen ´begründet´sind4, daß zweitens in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft wie der deutschen mit ihren ungleichen und konkurrenzbestimmten Lebensbedingungen selbstbewußt-interessengeleitetes Handeln grundsätzlich erschwert und tendenziell verunmöglicht wird, daß drittens entsprechend des Zwangscharakters auch (in) dieser Gesellschaft Konformität(snormen) von sozialen Gruppen und einzelnen sozial erzwungen werden können, daß das Individuum sich normkonform verhalten muß, wenn es „handlungsfähig sein will“ und daß es viertens auch gesellschaftliche Lagen und soziale Situationen gibt, in denen die gedankliche Vorwegnahme („Antizipation“) künftiger Entwicklungen und (etwa widerständiger) Handlungen negativ handlungsbestimmend, handlungsvermeidend und speziell als Handlungsblockaden wirken, weil gegebene „stabile Strukturen Handlungsalternativen nicht zulassen.“

Damit sind einige weitergehende, auch mit Angstim allgemeinen und mit Identitätsverlust im besonderen zusammenhängende subjektwissenschaftliche Facetten, Gesichtspunkte und Felder angesprochen. Sie müßten, jedenfalls theoretisch, auch Engagierte sozialer Bewegungen interessieren.

Im Rückbezug auf hier angesprochenes Übergreifend-Allgemeines kann als gesichertes sozialwissenschaftliches Wissen gelten: immer dann, wenn es nicht um „lebende Menschen in ihrer ganzen Subjektivität“ (Paul Feyerabend), sondern um die „Vertreibung der Seele“ geht und immer dann, wenn „lebendige Menschen“, etwa durch Justiz und Staatsbürokratie in „tote Registraturnummern“ (Franz Kafka), verwandelt werden , wirkt ´falsches´ Bewußtsein als besondere Form gedanklicher Verkehrung und als Ausdruck der Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse. Ohmacht ist deren erste Erscheinungsform und allgegenwärtiger Ausdruck. Und gegen diese Herr(schaft)en ist Rebellion allemal berechtigt.

Richard Albrecht ist „gelernter“ Journalist, extern promovierter und habilitierter Sozialwissenschaftler, lebt seit seiner Beurlaubung als Privatdozent (1989) als Freier Autor & Editor in Bad Münstereifel und war 2002/07 Herausgeber von rechtskultur.de. Unabhängiges online-Magazin für Menschen und Bürgerrechte. Bio-Bibliographie -> http://wissenschaftsakademie.net

 

  1. Reinhard Opitz, Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus; in: Das Argument, 87/1974, 543-603; dazu Richard Albrecht, Reinhard Opitz´ These der Bewußtseinsfalsifikation – 30 Jahre später; in: Topos, 24/2005, 124-146; http://www.duckhome.de/tb/archives/9164-BEWUSSTSEINSFALSIFIKATION.html – erweiterte Netzfassung; zuletzt http://duckhome.de/tb/archives/9727-UEBERZAEHLIGKEITSANGST.html
  2. Richard Albrecht, SUCH LINGE. Vom Kommunistenprozeß zu Köln zu google.de. Sozialwissenschaftliche Recherchen zum langen, kurzen und neuen Jahrhundert. Aachen 2008: 12.
  3. Richard Albrecht, Zukunftsperspektiven: (I) Denkauslöser, Realitäten, planende Kreativität bei Marx, in: Forum Wissenschaft, 23 (2006) 4: 51-52; (II) Arbeitslosigkeit – Subjekt- und Realanalyse; in: ebda., 24 (2007) 1: 61-63;http://www.bdwi.de/forum/archiv/archiv/462300.html; http://www.bdwi.de/forum/archiv/archiv/527598.html (Netzversionen)
  4. Die folgenden Zitate nach: Klaus Holzkamp, Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/M. ²1985: 348; grundlegend auch ders. http://www.kritische-psychologie.de/texte/kh1983a.html; Ingeborg Rubbert, Ungleiche Lebensbedingungen und die Entwicklung von Identität; in: Rainer Geißler, Hg., Soziale Schichten und Lebenschancen in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1987: 111-137; Wolfgang Buchholz, Lebensweltanalyse. Sozialpsychologische Beiträge. München 1984: 143; Rose Groetschel, Zu den Grenzen klientenzentrierten Handelns in der Prävention; in: Psychologie & Gesellschaftskritik, 54-55/1990: 49-73.
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5 Antworten zu Über Ohnmacht

  1. Avatarg. sagt:

    Zunächst mal Danke für diese Überlegungen. Ich werde zwar beim Begriff „falsches Bewußtsein“ immer etwas knöterig, den Satz „Ohnmachtserfahrungen wollen ebenso bedacht werden wie historisch-kulturelle Umstände, gesellschaftlich-politische Verhältnisse und unterschiedlich-zukünftige Perspektiven.“ habe ich mir aber ins Stammbuch geschrieben.

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