Furchtbar verrückt…

Das ist doch komplett verrückt: einen Linienrichter totprügeln, weil man denkt, dass es kein Abseits war, was der gewunken hat. Ist aber in den Niederlanden passiert, und alle halten den Atem an. Der KNVB hat den nächsten Spieltag in den Amateurligen abgesagt, aber kann man dann wirklich zurück zu „business as usual“?

Man sollte nicht so tun, als wäre Gewalt gegen Schiedsrichter etwas neues. Der Tagesspiegel hat z. B. eine englische Meldung aus 1910 ausgegraben, in der berichtet wird, wie Schiris mit Eisenstangen,. Ziegelsteinen und Fußtritten angegriffen wurden, wenn man mit ihren Entscheidungen nicht einverstanden war. Fußball ist ein emotionales Spiel, und Spieler, die ihre Emotionen nicht im Griff haben, sind so alt wie der Sport selbst.
Aber haargenau das scheint mir das Problem zu sein: eine der Grundideen von Sport ist ja, dass wir unsere Streitigkeiten mit anderen Mitteln und nach Regeln austragen, die verhindern, dass jemand ernsthaft zu Schaden kommt. Aber jetzt ist der „Stellvertreterkrieg“, als der Fußball mal bezeichnet wurde, auf dem Weg zum richtigen Krieg. Jede Menge Barrieren sind gefallen, und wer jetzt Sätze sagt wie „Wir müssen verhindern, dass die Dämme brechen“ verschließt die Augen: die Dämme sind bereits gebrochen. Wenn etwas in den Medien erscheint, wird es ein paar Tage oder Wochen später nachgemacht. Wir gehen schwersten Zeiten entgegen. Die Pandora-Büchse ist offen und der Deckel klemmt.
Kann man etwas tun? Ja, man kann nicht nur, man muss. Der Profi-Fußball hat sich in den letzten Jahren vom bloßen Sport zur Unterhaltungsindustrie entwickelt. Spiele werden zum Drama hochgejazzt, aus stinknormaler sportlicher Rivalität werden epische Fehden gemacht, aus einem stinknormalen, im Ligabetrieb systemimmanenten Abstieg wird die Vernichtung einer Existenz (obwohl alle Wissen, dass der „vernichtete“ Verein eine Spielzeit später mit verkleinertem Budget eine Liga tiefer wieder antreten wird). Wir bewundern plötzlich Trainer, die sich am Spielfeldrand wie ausgerastete Schachtelteufelchen aufführen, weil sie „ihrer Emotionalität freien Lauf lassen“. Und wenn so ein „emotionaler“ Trainer sich vor einen Schiri hinstellt und ihn aus ein paar Zentimetern Entfernung anbrüllt, als wolle er ihm gleich eine reinwürgen, dann entschuldigen wir das gern mit „dem Eifer des Gefechts“.
Und so wurden hier oben, in der Profi-Etage die Löcher in die Dämme gebohrt, die jetzt in den unteren Ligen zu bersten beginnen. Haben wir vergessen, dass die Profis -Spieler wie Trainer – Vorbilder für die Jugendlichen sind? Warum bekommt Benfica-Kapitän Luisao mit zwei lumpigen Monaten Sperre davon, wenn er einen Schiedsrichter bewusstlos rempelt? Warum bezeichnet Otto Rehagel einen Spieler, der wegen tätlichen Angriffs auf einen Schiedsrichter siebeneinhalb Monate gesperrt wurde, als „fairsten Spieler seit dem 2. Weltkrieg“? Meinte er etwa, dass im 2. Weltkrieg ein paar noch wesentlich unfairere „Spieler“ unterwegs waren?
Wir sitzen auf wohlgefüllten Pulverfässern, an denen die brennende Lunte immer kürzer werden: vor allem in NRW und in Berlin eskalieren die Schiedsrichterbedrohungen, Spielabbrüche sind mittlerweile an der Tagesordnung, es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis ähnlich schlimmes passiert wie in den Niederlanden.
Das ändern man nicht durch härtere Gesetze, schärfere Regeln oder Brandreden von Politikern und Funktionären. Das ändern wir nur, wenn wir uns – von den Profis oben zu den Amateuren unten – darauf zurückbesinnen, das Sport Regeln braucht, um sinnvoll zu funktionieren. Und das derjenige, der die Regeln respektiert, das Vorbild ist und nicht derjenige, der sich (einen Bruch der Regeln durchaus in Kauf nehmend)  irgendeinen dubiosen „Respekt“ zu verschaffen versucht.
Der Fußball muss zurück zu seinen Wurzeln finden, wenn er dieses abscheuliche Gewaltproblem  in den Griff kriegen will: Zurück zu Gelassenheit (es ist tatsächlich „nur“ ein Spiel) und vor allen Dingen zur Fairness. Fairness ist nicht die Abwesenheit von Schlitzohrigkeit, sondern eine Lebensweise.
Auch das kann wieder die Aufgabe des Sports sein: in einer Welt, in der jeder nur den eigenen Vorteil verfolgt, Fairness als Gegenentwurf vorleben. Ja, ich weiß, das ist sowas von idealistisch und  utopisch, aber sieht denn irgendwer eine andere Möglichkeit?

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Eine Antwort zu Furchtbar verrückt…

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