Buchbesprechung „Recht und Gerechtigkeit – Ein Märchen aus der Provinz“

Was Jörg Kachelmann seit dem Jahr 2010 erlebt hat (Kurzfassung: einer schweren Straftat, der Vergewaltigung, beschuldigt, 100 Tage U-Haft, anschließend ein aufsehenerregender Prozess mit einem noch nie dagewesenen Medienaufkommen, schließlich Freispruch, ohne dass die Schlammschlacht enden würde), liefert Stoff für mindestens ein Dutzend Bücher. Jetzt hat er – zusammen mit seiner Frau Miriam – eins geschrieben „Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz“. Pflichtlektüre? Vielleicht. Auf alle Fälle haben die Kachelmanns ein für Männer unheimlich wichtiges Buch geschrieben.

Wenn jetzt jemand abwinkt und meint „Kachelmann? Kenn ich doch alles, stand doch lang und breit in der Zeitung!“, dann sollte derjenige sich ziemlich genau überlegen, was genau er in welcher Zeitung gelesen haben will. Ich zum Beispiel hatte vollkommen vergessen/verdrängt, dass große Teile des Prozesses gegen Kachelmann unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden haben. Aber die Zeitungen und Illustrierten haben ja trotzdem ausführlich berichtet, nicht wahr? Wie konnte das gehen? Nun, viele bis die meisten der Blätter haben sich da einiges aus den Fingern gesogen. Und das dokumentiert Kachelmann ausführlich im Anhang seines Buchs: an die hundert einstweilige Verfügungen sind da aufgelistet, die er gegen unrichtige Artikel, Sendungen etc. erwirkt hat (das BILDblog hat die Liste dokumentiert ). Nicht erwähnt sind „hunderte“ von Unterlassungserklärungen, die die betroffenen Medien abgaben, nachdem sie von Kachelmann abgemahnt wurden. Wer also glaubt, durch die Medien umfassend über den Fall Kachelmann informiert worden zu sein, hat vermutlich Nachholbedarf, was die Fakten anbelangt.

Und Fakten liefert Kachelmann reichlich. Ausführlich schildert er seine Verhaftung am Flughafen Frankfurt, die hundert Tage Untersuchungshaft in Mannheim, die quälende Zeit vor, während und nach seinem Prozess… aber er beschränkt sich – leider – nicht darauf, den größten Justiz- und Medienskandal der letzten Jahre aus seiner Sicht zu schildern. Er will sich rächen, er will zurückschlagen, für ihn ist Payback-Time. Ihm ist schlimmes angetan worden, er will mit gleicher Münze zurückzahlen.

Das ist verständlich, und auf den ersten Blick erscheint es logisch, dass eigene Buch als Plattform dazu zu benutzen, doch Kachelmann schadet seinem eigenen Anliegen dadurch mehr, als dass er ihm nützt. „Show, don’t tell!“, ist der wichtigste Grundsatz, den ein Autor beim Schreiben eines Buchs verinnerlichen sollte: „Zeig die Dinge, erzähl nicht von ihnen.“ Aber Jörg und Miriam Kachelmann erzählen drauflos, sie interpretieren, sie klagen an, sie vergießen Häme, schlittern vom nüchternen Faktenaufzählen in die sarkastische Satire und wieder zurück…

Das liest sich hin und wieder ganz amüsant, aber im Endeffekt lassen einem die sarkastischen Nadelstiche, die vollkommen überflüssigen Detailschilderungen (wen interessiert die auf mehreren Seiten beschriebene Sitzordnung im Gerichtssaal bei Miriam Kachelmanns Aussage?) und das seitenlange Aufdröseln von, doch, ja, letztendlich Nebensächlichkeiten immer öfter den roten Faden der Erzählung und das Anliegen der Kachelmanns aus den Augen verlieren.

Aber will ich Jörg Kachelmann wirklich deswegen kritisieren? Will ich ihm vorwerfen, dass er sich Luft machen will, nachdem er eine elend lange Zeit schweigend auf der Anklagebank sitzen musste? Sicherlich nicht. Trotzdem ist das Buch dann am stärksten, wenn die Kachelmanns die Fakten für sich sprechen lassen. Wenn sie ganz einfach erzählen, was ihnen widerfahren ist, als sie zum Spielball einer ausgerasteten Justiz und einer durchgeknallten Medienmeute wurden. Dann erhält man einen Einblick in die Mechanismen eines Strafprozesses und muss entsetzt erkennen, dass ein Mann, dem das gleiche widerfahren wäre und der nicht über die finanziellen Mittel Kachelmanns verfügt hätte, vermutlich verurteilt worden wäre.

Bleibt zu hoffen, dass es den trotz allem Kachelmanns gelingt, eine hierzulande überfällige, sachliche Debatte anzustoßen: Über eine unkontrolliert und selbstherrlich handelnde Justiz, und über gewissenlos agierende Medien, die nur Auflage und Reichweite im Sinn haben und in Kauf nehmen, dass sie die Existenz unschuldiger Menschen dabei vernichten könnten. Insofern ist den Kachelmanns ein eminent wichtiges Buch gelungen.

Jörg u. Miriam Kachelmann: Recht und Gerechtigkeit – Ein Märchen aus der Provinz
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 384 Seiten
ISBN: 978-3-453-20025-8
€ 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,50
Auch als Audiobook bzw. e-book erhältlich

Das Buch ist im Heyne Verlag erschienen, bei dem wir uns für das Rezensionsexemplar bedanken.

Markiert mit Buchbesprechung, Recht und Gerechtigkeit - Ein Märchen aus der Provinz. Jörg Kachelmann.Speichern des Permalinks.

4 Antworten zu Buchbesprechung „Recht und Gerechtigkeit – Ein Märchen aus der Provinz“

  1. AvatarJulian sagt:

    Vielen Dank für den Beitrag – das muss einfach mal sein. Ich finde es auch immer wieder faszinierend, wie Medien vorgeben Dinge im Detail zu wissen und somit das medienunkritische Gedankengut der meisten Menschen beeinflussen können. Schweinerei! So ist es toll sich auch ein eigenes Bild mithilfe der Aussagen des Betroffenen selbst zu machen – auch wenn, und das muss ganz klar gesagt werden, man auch das mit einem kritischen Auge betrachten kann/muss.

  2. AvatarTom sagt:

    Der Titel ist verräterisch, denn wer das Märchen von Recht und Gerechtigkeit glaubt, hat hunderte Jahre geistiger Entwicklung nicht zur Kenntnis genommen. Es ist gerade der Begriff des Rechts, der die Gerechtigkeit ausklammert – ansonsten gäbe es keine Notwendigkeit für einen solchen. Wie es aussieht, wenn Recht auch Gerechtigkeit ist, kann man bei den frühen Griechen nachlesen: Verfehlungen der Tugend haben immer soziale Folgen; auf Tugendaspekten wurden Staaten gegründet. Wollen wir wirklich, dass die BRD untergeht, wenn Helmut Kohl Parteispenden…? Muss Kachelmann nun seine Sachen packen und wird ausgestoßen? Manche Medien bemerken es nicht, aber das ist, worauf ihr Geschäftsmodell hinausläuft.

    Und machen wir uns doch nichts vor, wir wollen in einer kapitalistischen Welt leben: können wir tatsächlich glauben, Medien wollten Nachrichten verbreiten und das möglichst gut? Es sind Unternehmen, die nur zu dem Zweck existieren, Geld zu verdienen – Nachrichten stehen an zweiter Stelle. Psychologen lehren uns, wie wir alte Mechanismen in uns ausnutzen können: es geht nicht um Nachrichten, es geht um Aufmerksamkeit.

    Aus diesem Grund weiß ich nichts vom Kachelmannprozess und es ist mir egal. Was davon könnte mein Leben bereichern? Da sind wir wieder bei Psycholgie: dieser kleine Stoß Befriedigung, den wir erleben, wenn jemand für moralisch verwerfliches Verhalten bestraft wird, ist der Grund, weshalb wir uns diese Klatschmedien zuführen. Es ist dabei unerheblich, was tatsächlich wie geschehen ist – es zählt der kleine Kick.

    Statt solcher Bücher sollte man lieber Philosophie lesen, wenn man unterhalten werden möchte, auch wenn es sicher nicht so einfach ist. Den Kick gibts dazu, wenn man wieder etwas erkannt hat und süchtig macht er auch.

  3. Pingback:Schockstarre, Kachelmann und ein langsamer Stochelo - die Links der Woche vom 12.10. bis 18.10. | Männer unter sich

  4. Pingback:Fairplay | Männer unter sich

Schreibe einen Kommentar zu Julian Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.
Bitte nicht wundern: nach dem Absenden verschwindet Dein Kommentar einfach und wird erst nach Freischaltung durch uns sichtbar -- also nicht mehrfach absenden!