Karl May

Old Shatterhand

Es war weit nach 22 Uhr, als ich aufflog. Die Kurbjuhns hatten sich längst zu Bett begeben, die meisten schliefen bereits, einige waren noch mit spannender Lektüre befasst. Unter anderem ich, ich las unter der Bettdecke bei Taschenlampenschein „Winnetou III“. Nur noch wenige Seiten, dann hatte ich’s geschafft…
Mein Vater pflegte mir seit anderthalb Jahren vor dem Einschlafen  ein paar Seiten Karl May vorzulesen. Und hatte die irritierende Eigenschaft, immer an einer besonders spannenden Stelle aufzuhören und sich diebisch an meiner kindlichen Frustration darüber zu freuen, dass ich nun einen ganzen Tag warten musste, um zu erfahren wie’s weiterging. Er ahnte ja nicht, dass ich in den wenigen Wochen seit meiner Einschulung im Eiltempo das ganze Lesebuch durchgeackert hatte, um so schnell wie möglich lesen zu lernen. Endlich unabhängig von den deplatzierten väterlichen Cliffhangers sein, endlich jederzeit wissen dürfen, wie’s weiterging mit Old Shatterhand und Winnetou.

Kara ben Nemsi

Und Kara Ben Nemsi natürlich. Hadschi Halef Omar. Old Firehand. Old Surehand. Tante Droll und der Hobble Frank. Old Wabble. Sam Hawkins, und wie sie alle noch hießen. Karl May hatte eine eigene Welt, ein eigens Universum geschaffen, in dem Jungs wie ich sich wie Zuhause fühlten.
Erzählerisch war Karl May das vielleicht größte Talent, das Deutschland je hervorgebracht hat, vergleichbar nur mit einem Fabulier-Titanen wie Charles Dickens. Vielleicht hat sich dieses Talent Bahn gebrochen, weil die Phantasie der einzige Ausweg aus einer vollkommen verkrachten Existenz war. Kindheit in bitterer Armut, auf die schiefe Bahn geraten, Gefängnis, schließlich Zuchthaus. so waren die ersten Stationen von Mays Leben. Aber irgendwie ist es diesem Kerl gelungen, sich aus seiner Zelle raus ins Abenteuerland zu träumen, wo die Helden Bärentöter und Henrystutzen abfeuerten, die Schurken mit Schläfenhieben und Knieschüssen zur Strecke brachten und den Pferden „Rih!“ ins Ohr flüstern mussten, damit die Post abging.

Natürlich war das alles hemmungsloser, aus dem Baedeker zusammenmontierter Quatsch, aber was für ein herrlicher, grandioser Quatsch. Als Junge bekam ich rote Ohren, wenn May mich mit in den Llano Estacado nahm, wo gewissenlose Banditen brave Siedler vom rechten Pfad abbrachten.
Und die Ohren des großen Chris kommen immer noch auf Farbtemperatur, wenn er einen May-Schmöker zur Hand nimmt. Man schlägt das Buch auf, lächelt ein wenig müde, „Ja, olle Scharlih“, überblättert die nächste stinklangweilige Landschaftsbeschreibung, die er aus irgendeinem Reiseführer abgeschrieben hat, um Zeilen zu schinden (Pulp Fiction ist harte Arbeit, meine Herren!) aber spätestens, wenn irgendein „Westmann“ das unvermeidliche „Zounds, Meschurs!“ ausruft, dann hängt man wieder an Mays Angel, blättert Seite um Seite um, reitet mit den Apachen sehenden Auges in einen Hinterhalt hinein, weil man weiß, an Winnetous Seite kann einem nichts passieren…
Wer heißen Herzens die Abenteuer Winnetous und Kara ben Nemsis May gelesen hat, bedauert sehr, dass er erwachsen geworden, dem May’schen Universum im wahrsten Sinne des Wortes entwachsen ist.
Einmal noch den Wind über die Savannen streichen sehen, den schrillen Kriegsruf der Apachen singen hören, hinter dem Schut den Selbstmörder-Pass entlang preschen…

Einmal noch wie ich als Sechsjähriger an jenem Abend entsetzt aufschreien und in herzzerreißende Tränen ausbrechen, dass die entgeisterten Eltern in mein Zimmer stürzten und mich sahen, Buch und Taschenlampe in der Hand.
„Winnetou ist tot!“, rief ich, vollkommen entsetzt und untröstlich.
Die Taschenlampe wurde konfisziert, und vorgelesen hat mein Vater mir auch nicht mehr, konnte ich ja jetzt alleine. Aber regelmäßig kontrolliert wurde ich, ob ich auch wirklich schlief. Und mich nicht wieder bei den Mescaleros rumtrieb.

Das macht das erzählerische Genie Mays aus: Das er nicht nur ein spannendes Garn zu spinnen vermochte, sondern dass er den Jungs (und, ja, paar Mädels sollen auch May gelesen haben) direkt aus der Seele und ins Herz hineingesprochen hat. Dass er sich eine Welt zusammengeträumt hat, die seinen Lesern Heimat und Sehnsuchtsort wurde. Herrgottsack, werd ich pathetisch! Aber bei Karl May, der vor hundert Jahren, am 30. März gestorben ist, kann ich nicht anders als die Pathoskeule schwingen.

„Pshaw!“ hätte Sam Hawkins verächtlich gesagt und die alte Liddy gestreichelt.

Foto Old Shatterhand: Public Domain
Foto Kara ben Nemsi: Adolf Nunwarz/Alois Schiesser.Tamarin at de.wikipedia [Public domain], vom Wikimedia Commons

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7 Antworten zu Karl May

  1. AvatarAfra Evenaar sagt:

    Ich folge Deiner Eloge genauso atemlos wie ich als kleines Mädchen, ja, es gab sie wirklich, an die 35 Bände Karl May gelesen habe. ( Manche auch dreimal, und Winnetous Tod, der so ganz und gar unvorstellbar war, ließ jedesmal die Tränen fließen.) Bis ich, ungefähr auf der Hälfte von Schloss Rodriganda, meinen letzten Karl-May-Band aus der Hand legte und nie wieder einen aufschlug. Nie wieder. Da wird es wohl allmählich Zeit für einen neuen Anfang.

  2. Schloss Rodriganda? Der Waldröschen-Quatsch! Ja, um Himmelswillen, kein Wunder dass du das weggeworfen hast. Dieses ganze Kolportagezeugs, was er vor den Reiseerzählungen abgesondert hat, ist vollkommen schwerverdaulich. Aber noch Gold gegen „Ardistan“ und „Der mir von Dschinnistan“, bei der durchgeknallten Predigerei hab ich die Segel gestrichen.
    Aber die Hälfte bis zwei Drittel kann man nach wie vor gut lesen. Um wieder reinzukommen ist z. B. „Unter Geiern“ sicher nicht übel. Oder „Der Schatz im Silbersee“. Der Orient-Zyklus ist nach wie vor ein Hammer, und natürlich die Winnetou-Bände.
    Es ist übrigens jammerschade, dass Dietmar Mues bei diesem grauenhaften Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Der Mann hat irrsinnig gute May-Lesungen gemacht.

  3. AvatarGabi sagt:

    Noch’n Mädchen, mit sehr spezieller May- Vergangenheit. Ich habe Karteikarten mit den Fremdsprachen-Versatzstücken gefüllt, eines kann ich immer noch: nadie ja visto el otro lado de la luna. Und ich habe alle, ja, ALLE Bände gelesen. Sogar Ich. Das war’s denn auch.

  4. AvatarGaby sagt:

    Noch’n Mädchenkommentar – wo sind eigentlich die Jungs? Habe alle seinerzeit verfügbaren Bände gelesen. Allerdings Winnetou II und III wegen der Sterbefälle nur einmal und danach (wirklich) nie wieder. Sonst sehr viele zwei-, drei-, viermal.
    Absolut geeignet für den Wiedereinstieg: Schatz im Silbersee, Durchs wilde Kurdistan. Die langweiligen Bücher (erinnere mich an „Der Waldläufer“) hab ich nach einmaligem Lesen meiner kleinen Schwester geschenkt.

  5. AvatarAfra Evenaar sagt:

    Unter Geiern und Durchs wilde Kurdistan lassen gleich mein Herz höher schlagen. Und ein ganz spezieller fällt mir ein, „chinesisch“, höchst fragwürdig, aber durchaus geliebt: Der blaurote Methusalem.
    Ardistan und Der Mir von Dschinnistan? Nie gehört.

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  7. AvatarKlaus Sohl sagt:

    Wir schreiben den 01.09.2022.
    Die Winnetou Woker*innen haben einen Felsbrocken los getreten.
    Ich hoffe er fällt ihnen auf die Füße.
    Nee, vor der Einschulung habe ich noch die Kinderbibel gelesen.
    Bei mir begann es erst mit 10 Jahren.
    Aber mit Unterbrechungen bis heute.
    Und die Winnetou Diskussion hat mich wieder dazu gebracht.
    Das war ein sehr schöner Blog von dir lieber Chris.
    Werde nun öfter mal bei dir lesen.

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