Dicke Wagen

Papa pennt im Kinderwagen

So groß, dass sogar Papa reinpasst

Davon träumen Militärs: von einem einfachen, wendigen, von einer Person zu steuerndes Gefährt, dessen bloße Anwesenheit im Nahkampf eine gegnerische Kompanie durch Einschränkung der Bewegungsfreiheit beinahe komplett lahmlegen kann. Die Rede ist selbstverständlich von einem modernen Kinderwagen, über dessen massives militärisches Potential man sich in Berliner Doppeldeckerbussen ein Bild machen kann. Wenn einer (oder gar zwei!) dieser Panzerspähwagen mit einsitzendem Kleinkind mittig in den Bus gewuchtet werden, sind die restlichen Passagiere zur Immobilität verdammt, dann gibt‘s im Wagen weder vor noch zurück bis Mutter, Kind und fahrbarer Untersatz den Bus wieder verlassen haben. Warum um Himmelswillen erreichen diese Kinderwagen mittlerweile schon beinahe die Größe eines Smart?
Die Antwort ist einfach: Weil die Passagiere dieser Wagen immer größer werden. Nicht etwa, weil die Kinder heutzutage so viel größer sind als früher, sie werden einfach länger in ihren Aufklärungsfahrzeugen durch die Weltgeschichte geschoben.
Ein Beispiel: eins der größten Vergnügen meiner Kleinkinderzeit muss es gewesen sein, auf den Schultern meines Vaters durch die Gegend getragen zu werden. Mein Vater war ein 1,92m großer Hüne, der Ausblick muss fantastisch gewesen sein, und die Geschwindigkeit, mit der er mich mit seinen Sieben-Meilen-Schritten getragen hat, war für mich kleinen Jungen sicherlich atemberaubend.
Wie es wirklich war, kann ich nur vermuten, denn ich erinnere mich nicht. Lediglich ein paar alte Fotos zeigen mich auf seinen Schultern sitzend, wie ich mich fröhlich grinsend an seinen Haaren festklammere. Ich kann mich nicht daran erinnern, weil mit Kinderwagen und Auf-den-Schultern-Reiten Schluss war, als ich Laufen gelernt hatte. Ab diesem Zeitpunkt war ich für mein irdisches Fortkommen allein verantwortlich.
Heute scheint es anders zu sein, denn die Kinder, die ich in den von ächzenden Müttern durch die Gegend gewuchteten Ungetümen erblicke sind oft so groß, dass man „Können die noch nicht alleine laufen?“ fragen möchte.
Und wenn man sich das Fragen doch mal traut, kommt‘s: „Ja, klar, aber der braucht so lange. Wenn‘s schnell gehen muss, setzen wir ihn in den Buggy, das spart unglaublich Zeit.“
Nun ja, hätte man mir seinerzeit eine derartige Möglichkeit offeriert, wäre ich gar nicht aus dem Buggy herausgekommen. Ist doch viel besser, komfortabel durch die Welt kutschiert zu werden, als mühsam dieses unpraktische Gehen zu erlernen. Dann stell ich mich doch extra ungeschickt an, fall ein paar Mal hin, blöke laut los, bis Mama und Papa die Geduld verlieren und mich in den bequemen Kinderwagen setzen, ab geht die Post!
Und wer jetzt meint, das macht doch nix, wenn man die lieben Kleinen ein Weilchen länger herumkutschiert als früher, der soll sich gern einmal mit meinem Freund Andreas unterhalten. Andreas ist Tennistrainer und muss seit ein paar Jahren etwas machen, dass er vorher noch nie gemacht hat: Er muss mit kleinen Kindern, die zu uns in den Tennisclub kommen, um diesen Sport zu erlernen, rückwärts Laufen üben. Bis vor ein paar Jahren hatten die Kinder das beim Laufen lernen und Herumtoben von allein gelernt. Als die Kinderwagen noch kleiner waren.
Otto Rehagel pflegt junge Spieler davor zu warnen, sich zu früh in dicke Wagen zu setzen: „Wenn Sie jetzt schon mit dem Porsche ankommen, was wollen Sie denn fahren, wenn Sie fünfzig sind?“ Wenigstens hier hat Rehagel recht: Es ist nicht gut, in einen dicken Wagen hineingesetzt zu werden. Es ist viel besser, wenn man ihn sich in fortgeschrittenem Alter verdient.

Foto by Yoav Dothan (self taken) [Public domain], via Wikimedia Commons

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2 Antworten zu Dicke Wagen

  1. AvatarCarsten sagt:

    Da fängt es ja erst an! Ich bin immer wieder fassungslos, wenn ich morgens an der SUV-Parade vor Kindergarten, Grundschule vorbei radele. Ich musste in den Kindergarten und zur Schule laufen. Fürs Gumminasium gab’s dann ein Fahrrad.

  2. Carsten, Du hast ja so Recht!

    Wenn Ferien sind, fährt meine Frau max. 15 Minuten zur Arbeit — ansonsten braucht sie für die ersten 2 km mindestens 15 zusätzliche Minuten, denn auf einer langen Ortsstraße bei uns ist eine (ja, nur 1!) leider unumfahrbare Schule. Jeder 3. Wagen ist eine „Vorzeigemutti“, die ihr Kind zur Schule fährt. Gefühlt so lange, bis die Pubertät zuende ist. Es müssen Schülerlotsen eingesetzt werden, die Lehrerautos zwischen den Blechlawinen durchschleusen und allein ankommende Kinder vor dem Verkehrstod schützen müssen, denn trotz der vielen nutzlosen täglich abgerissenen Kilometer (siehe unten) fahren diese Damen wie die ersten Menschen auf der Erde. Alle Apelle der Schulen und Lehrer gehen in’s Leere.

    Diese Mütter blicken irritiert und hochnäsig auf die unfähigen/asozialen Rabenmütter herab, die ihre Kinder zur Selbständigkeit erziehen und fahren Ihre Kinder völlig selbstverständlich auf Wegen, die von Bussen im 10-Minutentakt bedient werden und an achtspurige Radwege angebunden sind zum Sport (damit sie sich nicht zu viel bewegen?), alle paar Tage zu einem Geburtstag (die schweren Pakete und die guten Klamotten!) oder zum Einkaufen in die Stadt („Ruf mit Deinem Handy an, wenn Mutti Dich wieder einsammeln soll!“) .

    Ganz toll ist es, wenn man am Ziel parken und herumstehen kann, da kann man bei anderen Müttern mit der eigenen Kinder-Service-Leistungsdichte angeben, wie Männer beim Schwanzmessen nicht schlimmer sein können. Die Termine müssen regelrecht verwaltet werden, wie in Speditionen — gibt es eigentlich schon den Beruf der persönlichen Fahrdienst-Dispatcherin?

    Wer nun denkt (bzw. diese Behauptung glaubt), diese Mütter haben ein besonders enges Verhältnis zu ihren Kindern, der irrt. Wenn Mama ‚mal „nein“ sagen möchte, wird ausgeflippt und die Mutter ist eine „fiese Egoistin“ — und diese Mütter mutieren, sobald die Konkurrentinnen an der Fernfahrerfront außer Sicht sind, zu überreizten, gestressten Zicken, die ihre Kindern ständig anschreien und an den Haaren oder Ohren von Termin zu Termin zerren.

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