Systemfrage

Man kann zurzeit weder eine Zeitung lesen oder einen Fußballtalk anschauen, ohne auf einen Experten zu stoßen, der vehement die Ansicht vertritt, dass Julian Nagelsmann als Bundestrainer eine Fehlbesetzung ist. Weil er ein „Systemtrainer“ ist, also ein Übungsleiter, der mit seinen Mannschaften über Monate hinweg komplexe Spielsysteme einstudiert, in denen jeder Spieler in absolut jeder Spielsituation weiß, was zu tun ist. Jürgen Klopp und Pep Guardiola sind typische Systemtrainer, und in der Tat gibt es faszinierend komplexen (und meist ziemlich erfolgreichen) Fußball zu sehen, wenn man einen Systemtrainer ein paar Monate (oder Jahre) in Ruhe arbeiten lässt. Auch Nagelsmann, das ist richtig, hat auf seinen bisherigen Trainerstationen so gearbeitet. Ein Bundestrainer, sagt man, kann nicht wie ein Systemtrainer arbeiten, weil ihm schlicht und einfach die Zeit fehlt, mit seinen Spielern ein System einzustudieren: Normalerweise sieht er seine Spieler nur alle paar Wochen für ein paar Tage, und die Turniervorbereitung recht nicht aus, um komplexe Spielsysteme zu vermitteln. Ich sehe das durchaus anders… weiterlesen…

[Eine wie keine] Wann hat ihn nur der Mut verlassen? – Turniertagebuch, Eintrag 10

Eine Europameisterschaft wie diese hat’s noch nicht gegeben: in mehreren Ländern… unter Pandemie-Bedingungen in beinahe leeren Stadien ausgetragen… ohne Fanmeilen und Public-Viewing-Volksfeste… was für ein Turnier wird das werden? Ich habe auch keine Ahnung, aber bis zum Finale werde ich’s vielleicht herausfinden. Und wenn ich mich reinschreiben muss.

Foto: Steindy (Diskussion) 10:00, 27 June 2011 (UTC) (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons

Das war’s also: gestern ist die Nationalmannschaft mit 0:2 rausgekegelt, Jogi Löw hat zum letzten Mal sein Team gecoacht, und die Ära, die er begründet hat, endete ganz anders, als sie begonnen hat: enttäuschend mutlos. Denn sein Mut war es, der Löw von allen seinen Vorgängern unterschied. Löw war tatsächlich der erste Bundestrainer – sieht man mal von Helmut Schöns Zwischenhoch mit der 72er Europameister-Elf ab – der bedingungslos an das spielerische Potenzial seiner Spieler zu glauben bereit war und nicht nur, wie die Herbergers, Beckenbauers und Völlers vor ihm einen Mangel verwalten wollte. Löw glaubte an das „beautiful game“, den schönen, kombinatorischen Angriffsfußball, und ließ ihn auch spielen, vor allen Dingen in Südafrika 2010 und in Brasilien 2014, wo sein Mut dann mit dem Titel belohnt wurde. Dazwischen – das soll man nicht verschweigen – gab es immer wieder Partien, wo Löw von einer merkwürdigen Angst vor der eigenen Courage befallen wurde, das Halbfinale der EM 2012 gegen Italien fällt einem sofort ein, als er das gesamte Offensivpotenzial der Mannschaft opferte, um Pirlo auszuschalten…

Diese merkwürdige Angst scheint ihn auch gestern wieder befallen zu haben, denn die Mannschaft hat in Wembley merkwürdig gehemmt gespielt. Von 15 aggressiven Minuten in der ersten Hälfte abgesehen, spielte die Mannschaft viel zu abwartend, vorsichtig, reaktiv… als hätte man gar nicht vor zu gewinnen. So tritt man nicht auf, wenn man in Wembley, einer der Kathedralen des Fußballs irgendwas gewinnen will. Bezeichnend waren Löws letzte Einwechslungen: das Team liegt 0:1 hinten und er bringt… Emre Can? Ernsthaft? Nicht Sané, nicht Musiala1 sondern Emre Can?

Ich fand’s schade, dass Löw seinen Abschied so verhalten gestaltet hat. Dass er ausgerechnet bei seiner Derniere (wie auch leider bei der vergurkten 2018er WM) zum drögen Zweckfußball seiner Vorgänger zurückgekehrt ist, statt sich an den gloriosen Spielen seiner eigenen Ära zu orientieren, an den 2010er Partien gegen England und Argentinien, an dem Halbfinal-Spektakel gegen 2014 gegen Brasilien… das wäre ein Abschied gewesen. „All in“ gehen, Manu Neuer rausnehmen und jeden auf der Bank einwechseln, der irgendwie nach vorne spielen kann… Out with a Bang!

Das wäre der Abgang gewesen, den ich Jogi Löw gegönnt hätte.

Meine Tipps fürs Viertelfinale:
Schweiz – Spanien 0:2
Belgien – Italien 1:2
Tschechien – Dänemark 0:2
Ukraine – England 0:2

Löws Abschied

Foto: Steindy (Diskussion) 10:00, 27 June 2011 (UTC) (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons

Jogi Löw wird nach der Europameisterschaft – unabhängig davon, wie’s sportlich läuft – nicht mehr als Bundestrainer weitermachen. Dann hat er 17 Jahre beim DFB in verantwortlicher Position gearbeitet, 2 als Assistent von Jürgen Klinsmann, 15 Jahre als Bundestrainer. Löw hat sehr, sehr viel richtig gemacht, und bis zum Jahr 2017 fast alles richtig gemacht. Neben dem Weltmeistertitel 2014 hat er in jedem großen Turnier mit der Nationalmannschaft mindestens das Halbfinale erreicht – ein beispielloser Trainer-Score. Der Absturz 2018 war dann zwar nicht ganz beispiellos (als amtierender Weltmister in der Vorrunde rauszukegeln hatten zuletzt die Franzosen 2002 hingekriegt), aber doch ziemlich heftig: Die Zahl der Freunde, die Löw zuletzt beim DFB und in der Öffentlichkeit noch hatte, war durchaus überschaubar. Wie viele andere erfolgreiche Bundestrainer hat er den richtigen Zeitpunkt für seinen Rücktritt verpasst: seit Lahm und Schweinsteiger nicht mehr spielten und die Mannschaft auf dem Platz in seinem Sinne führten, scheint er die Spieler nicht mehr richtig erreicht zu haben – wie seinerzeit Herberger nach Fritz Walters Abgang und Schön, nachdem Beckenbauer zurückgetreten war. weiterlesen…

Die Bundestrainer (8): Joachim Löw

Foto: Steindy (Diskussion) 10:00, 27 June 2011 (UTC) (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons

Foto: Steindy (Diskussion) 10:00, 27 June 2011 (UTC) (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons

Seit der letzten EM steht Bundestrainer Joachim Löw in der Diskussion, die seit dem Algerienspiel bei der WM durchaus heftig wird. Löws taktische Ideen und sein In-Game-Coaching werden sehr unterschiedlich bewertet. Anlass für mich, den Vergleich zu den anderen Bundestrainern, die ich (ich bin Fan der Nationalmannschaft seit 1965)erlebt habe, zu ziehen und eine kleine Serie über die deutschen Bundestrainer zu schreiben. Heute ist Jürgen Klinsmann dran.

Um Jogi Löw als Bundestrainer richtig einordnen zu können, müssen wir zunächst die persönliche Tragik Franz Beckenbauers ins Spiel bringen. Wie jetzt? Tragik bei der Lichtgestalt? Doch, doch…

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Die Bundestrainer (7): Jürgen Klinsmann

Foto: Nathan Forget (USA - Honduras 18  Uploaded by Yoda1893) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons

Foto: Nathan Forget (USA – Honduras 18 Uploaded by Yoda1893) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons

Seit der letzten EM steht Bundestrainer Joachim Löw in der Diskussion, die seit dem Algerienspiel bei der WM durchaus heftig wird. Löws taktische Ideen und sein In-Game-Coaching werden sehr unterschiedlich bewertet. Anlass für mich, den Vergleich zu den anderen Bundestrainern, die ich (ich bin Fan der Nationalmannschaft seit 1965)erlebt habe, zu ziehen und eine kleine Serie über die deutschen Bundestrainer zu schreiben. Heute ist Jürgen Klinsmann dran.

Die Suche nach einem neuen Bundestrainer gestaltete sich nach Rudi Völlers Rücktritt nochmal schwieriger als nach dem von Erich Ribbeck. Für den Job als Trainer des dreimaligen Weltmeisters beim größten Sportverband der Welt stellten sich die Kandidaten nicht bereitwillig in die Schlange sondern winkten in Serie ab. Ottmar Hitzfeld, Otto Rehagel, Arsène Wenger, Guus Hiddink, Morten Olsen hatten alle keinen Bock auf den Job. Einzig Lothar Matthäus erklärte seine Bereitschaft, wurde aber aus vollkommen unerfindlichen Gründen nicht berücksichtigt. Höhepunkt der ganzen Nachfolgerposse aus Absurdistan war dann der Versuch, Rudi Völler zu einem Rücktritt vom Rücktritt zu überreden, um quasi sein eigener Nachfolger zu werden. weiterlesen…

Die Bundestrainer (6): Rudi Völler

Foto: Schwarzwälder  CC-BY-SA-3.0, via Wikimedia Commons

Foto: Schwarzwälder CC-BY-SA-3.0, via Wikimedia Commons

Seit der letzten EM steht Bundestrainer Joachim Löw in der Diskussion, die seit dem Algerienspiel bei der WM durchaus heftig wird. Löws taktische Ideen und sein In-Game-Coaching werden sehr unterschiedlich bewertet. Anlass für mich, den Vergleich zu den anderen Bundestrainern, die ich (ich bin Fan der Nationalmannschaft seit 1965)erlebt habe, zu ziehen und eine kleine Serie über die deutschen Bundestrainer zu schreiben. Heute ist Rudi Völler dran.

Hätte es Uwe Seeler nicht gegeben, Rudi Völler wäre der beliebteste deutsche Fußballspieler geworden. Zuallererstmal: Weil er Stürmer war. Deutsche Fans lieben Stürmer, mehr als Verteidiger, Mittelfeldspieler oder gar Torhüter. Stürmer kommen der deutschen Mentalität entgegen, die setzen sich durch und sorgen fürs Zählbare. Der Rudi hat sich oft durchgesetzt, hat für sehr viel Zählbares gesorgt und im Finale 90 den Elfer rausgeholt. Und außerdem ist es einfach ein riesig sympathischer Kerl. Vollkommen Allüren-frei, geradheraus, ein Freund der direkten Ansprache, einer wie du und ich. Warum musste einer wie der Rudi ausgerechnet Bundestrainer werden? weiterlesen…

Die Bundestrainer (5): Erich Ribbeck

Seit der letzten EM steht Bundestrainer Joachim Löw in der Diskussion, die seit dem Algerienspiel bei der WM durchaus heftig wird. Löws taktische Ideen und sein In-Game-Coaching werden sehr unterschiedlich bewertet. Anlass für mich, den Vergleich zu den anderen Bundestrainern, die ich (ich bin Fan der Nationalmannschaft seit 1965)erlebt habe, zu ziehen und eine kleine Serie über die deutschen Bundestrainer zu schreiben. Heute ist Erich Ribbeck dran.

Wenn man die nackten Zahlen nimmt, war Erich Ribbeck der schlechteste Bundestrainer aller Zeiten: 10 Siege, 6 Unentschieden und 8 Niederlagen sind im Vergleich zu seinen Vorgängern und Nachfolgern ziemlich mau. Möglicherweise würde er in England für einen derartigen Score gefeiert, hier wurde er nach der total vergurkten 200er EM mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt mit wohlgesetzten Worten zum Rücktritt überredet. weiterlesen…