Karl May 175

Foto: Erwin Raupp [Public domain], via Wikimedia Commons

Mit das Vernünftigste, was mein Vater in unserer Vater-Sohn-Beziehung gemacht hat, war, dass er den ganzen Märchen-Sums übersprungen hat, als ich ins Vorlesealter kam. Er fing gleich mit Karl May an. „Unter Geiern“ war die Einstiegsdroge, wenn ich mich nicht irre, hihihi, und von da an ging die Post ab. Jeden Abend reisten mein Vater und ich ein Kapitel lang in den Westen oder in den Orient, staunten über Westmänner, die Redewendungeen wie „Zounds, Meschurs“ benutzten ebenso wie über den ersten Pferdeflüsterer der Welt (Kara ben Nemsi erlangt Rihs Freundschaft, in dem er ihm eine Sure des Koran – die mit den schnelleilenden Pferden – in die Nüstern flüstert). Wir verbrachten auf diesen Reisen gemeinsam eine wunderbare Zeit, denn ich merkte bald, dass mein Vater an der Wiiederlektüre der May’schen Bücher genauso viel Spaß hatte wie ich als „Erst-Täter“.Die Karl-May-Reisen mit meinem Vater endeten, wenige Wochen nachdem ich eingeschult worden war. Der Drang, mehr Karl-May-Abenteuer und die bitteschön schneller erfahren zu dürfen, war so groß geworden, dass ich in Windeseile lesen gelernt und begonnen hatte, meinem Vater voraus zu eilen. Trotz des schleppenden Tempos des Lese-Anfänger war ich ihm bereits viele Kapitel voraus, wollte es ihm aber nicht sagen, weil mir klar waren, dass unsere Vater-Sohn-Abenteuer dann ihr Ende finden würden. Also ließ ich mir von ihm eine gute Nacht wünschen und ihn das Licht löschen. Dann griff ich zum aktuellen Winnetou-Band auf dem Nachttisch, machte meine Taschenlampe an und blätterte vor. Genau. Die abenteuerliche Rettung der Siedler am Berg Hancock. Ich begann zu lesen.

Minuten später brüllte ich das ganze Haus zusammen, meine entgeisterten Eltern stürzten in mein Zimmer. Da saß ich im Bett, in Tränen aufgelöst. „Winnetou ist tot!“ brüllte ich ein ums andere Mal. Dass mein Vater sofort Buch und Taschenlampe beschlagnahmte, trug nicht zu meiner Beruhigung bei. So endeten unsere gemeinsamen Reise ins Reich von Karl May.

Ich reiste, nachdem ich mir eine neue Taschenlampe organisiert hatte, nach ein paar Wochen allein weiter. Und dreißig, vierzig Jahre später überkam es mich und ich las die meisten Bände noch einmal. Und verstand dann, warum mein Vater damals so viel Spaß daran hatte, mir diese Bücher vorzulesen. Bei May braucht es nicht die Naivität eines Kindes, um in die Abenteuerwelt einzutauchen. Dieser ganze, herrliche Quatsch, den der kleine Mann aus Hohenstein-Ernstthal sich zusammengeträumt hat, ist eine ganz wunderbare Hymne an das Ewig-Jung-Sein, an das unsterbliche Entdeckertum, an das Abenteuer an sich, das in jedem Leben und in jedem Alter um die Ecke lauern kann. Nicht nur hierfür haben wir Karl May, einem der größten deutschen Schriftsteller, innigst zu danken.

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