[WM2014] Turniertagebuch Tag 14 – Mitleid, beinahe

pixabay.comWir haben keinen Sonderkorrespondenten vor Ort in Brasilien, unsere WM findet im Fernsehen statt, bei Public Viewings, in den Kneipen, wo Männer sich treffen, die Fußball leben und atmen und das Spiel lieben. Hier schreibt Chris Kurbjuhn spieltäglich sein WM-Tagebuch, kommentiert das Geschehen, erzählt Anekdoten und dummes Fußballzeug und erinnert sich an frühere Turniere. Football, bloody hell!

Ich hätte nie gedacht, dass das mal passieren würde. Gestern, so gegen 19 Uhr 30 geriet ich zum ersten Mal in meinem Leben in die Versuchung, Italien die Daumen zu drücken. Fast hätte ich’s getan. Fast.

Eine vollkommen unberechtigte rote Karte, eine nicht mit Rot geahndete Tätlichkeit von Suárez… man konnte tatsächlich zu der Ansicht gelangen, das den Azzurri schweres Unrecht geschah und der Zorn des ungerechten Fußballgotts sie mit voller Wucht traf. Sie hätten mir beinahe leid getan. Beinahe, bis… ich merkte, dass sie auf einmal ganz anders spielten als vorher. Plötzlich waren all die kleinen Nickligkeiten weg, die kleinen versteckten Fouls, die sie begingen, wenn der Schiedsrichter nicht guckte. Sie kämpften stattdessen und spielten den Ball nach vorne. Wo waren die theatralischen Einlagen nach Allerweltsfoul, das minutenlange Liegenbleibenundsichbehandelnlassen, das Rumgejammer? Dafür hatten sie keine Zeit, sie kämpften und spielten den Ball nach vorne. Und wo war ihr ständiges Einreden auf den Schiedsrichter, das Fordern von gelben oder gleich roten Karten, wenn ein Gegenspieler ihnen mal näher als 30 Zentimeter gekommen war? Auch dafür hatten sie keine Zeit mehr, sie mussten kämpfen und den Ball nach vorne spielen.
Womit endgültig klar ist: Sie machen diese ganzen Nickligkeiten seit Jahrzehnten mit voller Absicht. Wenn man vorm Fernseher hockt und sagt „Wehleidig, hinterhältig, theatralisch: typisch Italien.“, dann sieht man gerade einem wohl ausgeklügelten, von Generation zu Generation weitergebenen System zu, mit dem der Gegner provoziert und entnervt werden soll. Erst als ihnen für ihre üblichen Unsportlichkeiten keine Zeit mehr blieb, beschräntken sie sich aufs Fußballspielen. Angesichts dieser Tatsache hielt sich mein Mitleid in Grenzen. War okay, dass Uruguay weitergekommen ist. Dass, nicht wie.

Wirklich riesengroß: Das Statement von Buffon nach dem Spiel. Keine Schuldzuweisung an den Schiedsrichter, eigene Fehler eingestanden, Verantwortung übernommen: So sprechen wahre Champions!

Sehr cool: die Twitter-Reaktionen auf Suárez’s Beiß-Attacke. „Chewy Luis And The Blues“ ist schlichtweg genial.

Noch zwei Gruppenspieltage bis zum Achtelfinale, und Spanien, England und Italien sind schon raus. Sind wir wieder bei einer Freak-WM, wie ich schon mehrfach mutmaßte? Ich glaube nicht. Ich denke eher, dass viele Europäer mit der falschen Einstellung nach Brasilien gefahren sind. „Ach, mal wieder WM? Diesmal in Brasilien? Dann fahren wir da hin und spulen unser übliches Programm runter, das hat bisher gereicht, das wird auch diesmal reichen.“
Augenscheinlich hat niemand daran gedacht, dass dies seit 1978 (!) die erste WM in Südamerika ist. Die fußballbegeisterten Menschen dieses Kontinents haben danach gelechzt, Gastgeber einer WM zu sein, die Nationalmannschaften der südamerikanischen Nationen werfen alles in die Waagschale, um erfolgreich und gut zu spielen. Und hier gibt es Spieler, die WIRKLICH spielen können. Nein, das ist keine Freak-WM. Hier sind Europäer an der eigenen, unangebrachten Arroganz gescheitert.

Die Partien des heutigen Tages im Überblick mit meinen Tipps:

Nigeria – Argentinien 1:3
Bosnien/Herzegowina – Iran 2:0
Honduras – Schweiz 0:1
Ecuador – Frankreich 0:2

Wer mittippen will, hier geht’s zu unserem Tippspiel.

In beiden Gruppen ist ein bisschen die Luft raus. Und – jetzt pack ich mal die europäische Arroganz aus – wer hinter Argentinien und Frankreich das Achtelfinale erreicht, ist komplett wurschtegal. Das Viertelfinale sehen diese Mannschaften nicht.

Zum Schluss – weil’s so schön ist – der vermutlich grandioseste Torjubel aller Zeiten, dargeboten von einem argentinischen Journalisten. Nicht gleich wegklicken wegen „Kenn ich, weiß ich, war ich schon.“, nach den „Gooooool“s legt er erst richtig los. Ganz große Oper!

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Video-Link: http://youtu.be/SNjlKs5asJ0

Euch allen viel Spaß, schöne Spiele!

 

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2 Antworten zu [WM2014] Turniertagebuch Tag 14 – Mitleid, beinahe

  1. AvatarRobert sagt:

    Zum Italienkommentar: Schön geschrieben, Chris. Was mir spontan dazu einfiel:
    (Fußball-)Gottes Mühlen mögen langsam mahlen. Aber sie mahlen gründlich. Oder habt Ihr schon vergessen, wie Italien 2006 Weltmeister wurde?
    Die FIFA-Eingabe vor dem Halbfinale? Die provozierte Rote Karte gegen Zidane im Finale?
    Zur Strafe reißen die Italiener die nächsten 20 Jahre nix mehr…

  2. Vergessen ist hier gar nichts. Vor allen Dingen nicht das „Jahrhundertspiel“, bzw. die 90 Minuten vor Schnellingers Ausgleich und dem atemberaubenden Drama in der Verlängerung. Diese 90 Minuten (und einiges in der Verlängerung) gehören zum Übelsten, was ich je an hinterhältiger Treterei im Fußball gesehen habe. Beckenbauer beendete das Spiel (man durfte noch nicht auswechseln) notdürftig bandagiert mit ausgekugelter Schulter. Ja. Schon damals.

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