[WM 2014] Turniertagebuch Tag 7 – die Kampfkraft-Option

 Foto: G.Garitan (Own work) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons


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Wir haben keinen Sonderkorrespondenten vor Ort in Brasilien, unsere WM findet im Fernsehen statt, bei Public Viewings, in den Kneipen, wo Männer sich treffen, die Fußball leben und atmen und das Spiel lieben. Hier schreibt Chris Kurbjuhn spieltäglich sein WM-Tagebuch, kommentiert das Geschehen, erzählt Anekdoten und dummes Fußballzeug und erinnert sich an frühere Turniere. Football, bloody hell!

Tol-ler Keeper! Guillermo Ochoa spielt zwar nicht so obercool mit wie Manu, aber was der auf der Linie zeigt, Respekt! Wie er das Ding von Neymar noch rausgekratzt hat… Allein wegen Ochoa hat’s gelohnt, Brasilien – Mexiko anzugucken, auch wenn das Spiel „nur“ 0:0 ausgegangen ist.
Zusammen mit dem Russland-Südkorea-Spiel waren das dann die Unentschieden Nr. 2 und 3 dieses Turniers, wenig für eine Gruppenphase. Es werden noch mehr werden, fürchte ich.Brasilien erinnert mich stark an die Deutschen von 1974. Die Parallelen sind offensichtlich: Beides sind bzw. waren äußerst spielstarke Mannschaften, die mangels Quali keine Chance hatten, ein Gefühl für den Wettkampf-Rhythmus zu entwickeln. Von beiden Mannschaften wurde bzw. wird erwartet, dass sie nicht nur den Titel holen, sondern auch noch die Konkurrenz an die Wand spielen.
Die Deutschen waren 1972 Europameister geworden, und zwar mit bis dato unerreichter spielerischer Eleganz, für die es mehrere Gründe gab. Seit 1970 konnte Franz Beckenbauer endlich auch in der Nationalmannschaft Libero spielen (Vorher waren Gott und Abwehrchef „Worldcup-Willi“ Schulz vor derart neumodischem Taktikkram.), wodurch das Spiel sofort offensiver wurde. Zwischen 1971 und 73 erreichte außerdem Günter Netzer die Form seines Lebens, harmonierte prächtigst mit Beckenbauer und schob sich mit Gerd Müller die Doppelpässe zu, dass es die reinste Freude war. Im EM-Finale 72 wurden die Russen regelrecht zerlegt, in den letzten 10 Minuten schoben sich die Deutschen den Ball zu, ohne dass ein Gegner die Chance gehabt hätte, in Ballbesitz zu kommen, ein derart einseitiges Finale gab’s erst wieder 2012, als die Spanier Italien pulverisierten.
Und natürlich erwarteten die Fans, dass die Mannschaft so weiterspielen würde. Tat sie aber nicht. Nur noch einmal, im ersten Freundschaftsspiel nach der EM gegen die Schweiz bekamen wir Ramba Zamba zu sehen, dann war Schluss mit lustig.

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Video-Link: http://youtu.be/VqrPCRj1P7E

Weil es zwei Jahre lang nur noch um die goldene Ananas ging, verloren die Spieler jeglichen Biss. Netzer wechselte 1973 zu Real Madrid und bestritt in den 2 Jahren WM-Vorbereitung ganze drei Länderspiele. Zu WM-Beginn war er komplett außer Form, deutlich übergewichtig und hatte seinen Stammplatz an Wolfgang Overath verloren, ebenfalls ein exzellenter Mittelfeld-Stratege, der aber mit dem ständigen Rochieren, auf dem Ramba Zamba beruhte, hatte er nix am Hut.
In der Vorrunde nun versuchte man, den Erwartungen des Publikums gerecht zu werden und Chile, Australien und die DDR an die Wand zu spielen. Das ging – vor llen Dingen gegen die DDR – gründlich schief, und zur Zwischenrunde (K.O.-Spiele gab’s 74 nicht) wurde der Hebel umgelegt (ob von schön oder Beckenbauer, da streiten sich die Historiker): Statt Eleganz am Ball gab’s fortan Kampfkraft satt, es wurde gerannt und geflankt statt gedribbelt und rochiert, und der Rest ist Geschichte.

Brasilien heute hat augenscheinlich nicht die Stärke vergangener Spielergenerationen. Technische Fehler, mangelndes Spielverständnis – eine spielstarke brailianische Mannschaft würde anders auftreten. Das ist nichts Neues, auch die Nach-Pelé-Generation von 1972 konnte z. B. spielerisch nicht an ihre Vorgänger anknüpfen, auch die Brasilianer kennen ein solches Auf und Ab. Nur das ausgerechnet bei der WM im eigenen Land Ab statt Auf angesagt ist, ist – vorsichtig gesprochen – nicht schön. Die Deutschen waren 1974 in einer ähnlichen Situation, und haben die Kampfkraft-Option gezogen. Eine Option, die Brasilien mangels entsprechender Erfahrung wohl nicht hat. Wenn man von Brasilien die Spielkultur abzieht bleibt… nichts mehr. Ich häng mich mal aus dem Fenster: Wenn nicht ein Wunder geschieht, fliegt Brasilien im Viertelfinale raus.

Kommen wir zu den Partien des heutigen Tages mit meinen Tipps:

Australien – Niederlande 0:3
Spanien – Chile 2:1
Kamerun – Kroatien 1:2

Wer mittippen will, hier geht’s zu unserem Tippspiel. Der gestrige Spieltag hat das Klassement etwas durcheinander geschüttelt, die beiden Unentschieden hatten nicht viele auf der Rechnung.

Unentschieden sollten sich Spanien, Kamerun und Kroatien nicht erlauben, die wären damit beinahe schon weg vom Fenster. Prima Sache, wir haben zwei Partien, in denen auf Sieg gespielt werden MUSS. Und dass die Holländer was gegen Australien anbrennen lassen, glaubt das wer? Bei dem unfassbaren Ehrgeiz, den Arjen Robben ausstrahlt? Nö.

Zum Schluss noch eine Kollektion schöner Torwart-Paraden.

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Video-Link: http://youtu.be/iYbouq24Eg4

Soweit zum Thema torhüterische Kompetenz. Englische Torhüter kriegen wir morgen, wenn England spielt. Und die Meldung des Tages kommt überraschenderweise aus Österreich.

Euch allen viel Spaß, schöne Spiele!

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