Der Kannibale

 

“Wieder Eddy”, murmelte mein Vater in der Dachgeschosswohnung meiner Großeltern an der Verbandsstraße. Mein Oppa qualmte dicke Wolken mit Stumpen, für die er kleine Pappspitzen mit gelbem Mundstück hatte. Giro ‘73. Die 1. Etappe. Sie endete in Köln.

 

Oppa stierte mit meinem Vater auf einen für damalige Verhältnisse riesigen Schwarzweißfernseher. Kopf im Nacken, weil das Teil auf einem Schrank stand. Ich saß bei meiner Omma auf dem taubengrauen Küchensofa steckte mit ihr die Eisenbahn zusammen. Die Küchenuhr schlug. Immer falsch. Oppa hatte sie mit Margarine aus dem Takt gebracht. Für mich gab es einen kleinen Grießpudding gestürzt aus einem Plastikförmchen mit selbst eingekochten Erdbeeren aus dem Weckglas – Obst und Pudding schmeckten. “Wieder Eddy?” Was meinte er damit? Ich wusste von nix.

‘77 – Didi Thurau. Der Sommer im gelben Trikot. Mit den Nachbarskindern veranstalteten wir Rennen im Wendehammer vor dem kleinen EDEKA – Bergankunft war der gepflasterte Fußweg rauf zur Verbandsstraße. Wie Thurau die Kurven fahren. Cool über die Schulter nach hinten sehen – wie die Profis eben. Dass Thurau in Bordeaux die Sensation gelang, er Merckx im Einzelzeitfahren – seiner Paradedisziplin – fast eine Minute abgenommen hatte, juckte uns nicht. Hauptsache gelbes Trikot. Ein Rennlenker landete auf meinem Wunschzettel – und für mich sollte er 30 Jahre dort bleiben. Wir waren Didi. Wer war Merckx? Wo war Bordeaux?

Heute klicke ich auf Wikipedia durch die Ergebnislisten der großen Rennen: Merckx. Merckx. Merckx. Brat mir ‘nen Storch! Der Bursche hat ja alles gewonnen. Alles.

Mailand – San Remo sieben Mal – Rekord. Lüttich – Bastogne – Lüttich fünf Mal – selbstverständlich Rekord. Flandern-Rundfahrt, Paris – Roubaix, Lombardei – alle Monumente mindestens zwei Mal. Mehr geht nicht, ist man geneigt zu denken. Bei Merckx schon: Tour de France und Giro je fünf Mal. Saison-Gesamtwertung Super Prestige Pernod International (heute UCI World Tour) satte sieben Mal in Folge. Noch nicht genug? Bitte schön: Drei Mal Weltmeister im Regenbogentrikot. Und dann noch der Stundenweltrekord von Mexico-City, der 30 (in Worten: dreizig) Jahre bestand hatte.

Rund 450 Siege als Radprofi. Noch beeindruckender als diese Zahl ist die Art und Weise, wie Merckx die Siege herausgefahren hat. Merckx suchte die Siege immer mit der Brechstange. Beispielsweise der Toursieg 1969. Tja, Gelbes Trikot – gut und schön, aber Merckx räumte Sprint- und Bergwertung gleich mit ab. Giro ‘73: Maglia Rosa von Anfang bis zum Ende. – Beim Prolog gewonnen und nicht mehr abgegeben. Tour ‘74: Gelbes Trikot seit der 7. Etappe im Sack. Legt Merckx auf der Halbetappe (nachmittags stehen noch 40 Kilometer Einzelzeitfahren auf dem Programm) von Vouvray nach Orléans 15 Kilometer vor der Ziellinie den Riemen auf die Orgel und sichert sich ohne Absprache mit dem sportlichen Leiter und ohne Begleiter einen knapp zehnminütigen Vorsprung in der Gesamtwertung.

Legendär: Merckx Duelle mit dem Spanier Luis Ocaña. Auch als es 1971 für Merckx kaum noch Hoffnung auf das dritte Gelbe Trikot bei der Tour gab, organisierte er auf der 12. Etappe nach Marseille eine Ausreißergruppe, die mit mehr als einer Stunde Vorsprung auf die schnellste geschätzte Ankunftszeit im Alten Hafen am Mittelmeer ankam. Ocañas Kommentar: “Qui d’autre que lui aurait pu faire un truc pareil? – Wer hätte sonst so ein Dingen machen können?” Der Sturz des Spaniers am Col de Menté brachte Merckx dann das Gelbe Trikot. Der aber weigerte sich, es überzustreifen, da er es nicht durch sportlichen Wettstreit gewonnen hatte.

Zu seinem Spitznamen “Der Kannibale” ist er übrigens durch ein kleines Mädchen gekommen. Es war die Tochter von Christian Raymond, dem Etappensieger im aquitanischen Morenx bei der Tour 1970. Sie war so aufgebracht, dass dieser Belgier einen Sieg nach dem anderen abräumte und gab ihm diesen Namen.

Tour de France 1970

Aber was war Merckx für ein Typ? Eine Siegertype? Voller Entschlossenheit? – Raymond Polidor zeichnet in einem Interview mit Phil Liggett ein zwiespältiges Bild: ”Merckx hatte einen Angststörung”, meint Poupou. “Wenn wir uns morgens begrüßten, hatte er Kopfschmerzen, Schmerzen in den Beinen. Wollte aufgeben. Ich hörte nur: ’Ich bin müde, ich bin krank. Ich bringe die Etappe nicht zu Ende.’ Aber: Wenn der erste Ausreißversuch kam, war Merckx dabei.”

Und: Merckx liebte die Frickelei. Sobald es nur die kleinste Gelegenheit gab, mussten die Mechaniker ran. Sattel einen halben Millimeter rauf. Lenker einen halben Millimeter runter. Schaltung nachstellen. Den Zollstock immer dabei wurden sämtliche Abstände am Rad akribisch gemessen. Zu Beginn seiner Karriere soll Merckx sein Rad einmal komplett demontiert haben, um mal die Teile durchzuzählen – aus Spaß.

Gretchenfrage: War er gedopt über beide Ohren? Bei rund 700 Kontrollen wurde der Kannibale drei Mal positiv getestet. Mal war der Onkel Doktor schuld (1973 Lombardia, 1977 Flèche Wallonne). Mal war es ganz und gar unerklärlich (Giro 1969).

Unerklärlich ist auch, warum Merckx überhaupt der erfolgreichste Rennfahrer aller Zeiten werden konnte. Denn er ist seit seiner Geburt herzkrank. Ein herzkranker Champion? Jupp, erstmals fiel es bei einer Routineuntersuchung im Vorfeld der Amateur-Weltmeisterschaften 1964 in Sallanches auf, die Merckx gewann. Nach heutigen Maßstäben hätte niemand Merckx starten lassen, aber seine Mutter Jenny drückte es irgendwie durch. Einige Jahre später beim Giro gab es den gleichen Befund. Merckx durfte trotzdem starten…

Nach seinem letzten Rennen, dem Omloop, am 19. März 1978 fiel Merckx in ein Loch. Er hatte keine Pläne für “die Zeit danach”. Belgiens Rekord-Kicker Paul Van Himst, der weiße Pélé wie L’Equipe ihn taufte, versuchte ihn wieder aufzurichten. Van Himst kellnerte halbtags in einem Laden der Merckx’ Eltern gehörte. So ein Job war für viele belgische Profifußballer in den 70ern während und nach ihrer Karriere ganz normal.

Den eigentlichen Anstoß für seine zweite Karriere im Fahrrad-Business gab der Mailänder Ugo de Rosa, Merckx’ ehemaliger Mechaniker. Er wusste, dass Eddys große Leidenschaft neben dem Rennbetrieb das Rumdoktorn an Fahrrädern war. Merckx kaufte ein ehemaliges Bauernhaus, stellte ein paar ehemalige Teamkollegen ein und baute Räder.

Noch heute zieht die Marke. Zu Beginn des Jahres machte Merckx Schlagzeilen, als es Ungereimtheiten bei der Auftragsvergabe für die Beschaffung von Rädern für die Zweiradstaffel der Polizei von Anderlecht gab. Merckx hatte einen Auftrag für die Lieferung von ein paar Dutzend Diensträder für bekommen und im Gegenzug dem für die Vergabe zuständigen Polizei-Kommissar ein Rennrad günstig überlassen. Der wiederum hatte angegeben, dass es bei den Fahrern der Zweiradstaffel regelmäßig Streitereien gegeben hätte, wer mit den schon vorhandenen Merckx-Rädern fahren dürfe. Die wollte man durch den Komplettumstieg auf Merckx-Räder abstellen.

Am 17. Juni hat Eddy seinen 67 Geburtstag gefeiert. Männer unter sich sagt: Gefeliciteerd met je verjaardag. Nog vele jaren!

Foto Merckx S/W: Anefo / Bert Verhoeff via Nationaal Archief. [Public domain oder Attribution], via Wikimedia Commons
Foto Tour: von Jean-Pierre Bazard Jpbazard (Eigenes Werk) [GFDL oder CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons
Foto Merckx heute: Doha Stadium Plus Qatar (Eddy Merckx) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons 

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