Desperadeln – die Freiheit auf zwei Rädern

Viele Menschen fahren Rad. Lance Armstrong zum Beispiel. Ich ebenfalls. Und Christian Ude, der Münchner Oberbürgermeister. Der hat vor zehn Jahren sogar ein nettes kleines Buch über das Radfahren geschrieben, »Stadtradeln« heißt es. Darin hab ich ein bisschen herumgelesen und diesen Satz gefunden: »Im Selbstversuch habe ich festgestellt, dass ich mir überhaupt nichts denke, wenn ich munter radelnd gegen die Verkehrsordnung verstoße«. Und wenig später bezeichnet Ude das Fahrrad als »ein Instrument, um aus unserer Rechtsordnung auszubrechen«.
»Starker Tobak«, dachte ich mir, ist denn jeder Radfahrer ein Desperado, der sich einen Scheißdreck um die Gesetze schert? Zum weiteren Nachdenken hatte ich keine Zeit, ich musste ins Büro. Also schwang ich mich aufs Rad, fuhr die Großbeerenstraße runter, an der Kreuzbergstraße war die Ampel wie immer rot, aber wie immer kam auch kein Auto von links, also rüber… Oh. Hat Ude doch recht?
Ich begann, meine routinemäßigen Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung auf dem Weg ins Büro und zurück zu zählen. Ohne mir viel dabei zu denken, fahre ich über fünf bis sieben rote Ampeln, durchquere eine Einbahnstraße in der falschen Richtung, wenn‘s mir gerade in den Kram passt, und kürze auf dem Rückweg gelegentlich 50 Meter über den Bürgersteig ab. Nicht schlecht für 5km hin, 5km zurück. Hätte man mich erwischt, wenn ich das mit dem Auto gemacht hätte, wäre ich die Pappe los.
Und warum mach ich das? Blöde Frage, um Zeit zu sparen, natürlich. Warum soll ich an der roten Ampel stehenbleiben, wenn eh keiner kommt? Und durch die Einbahnstraße spar ich mir den Schlenker rechts am Park vorbei, bin ich deutlich schneller im Büro…
Aber natürlich ist es nicht richtig. Man kann gern stundenlang über unsinnige Paragraphen der Straßenverkehrsordnung diskutieren, trotzdem ist die Straßenverkehrsordnung ein hilfreiches Gesetzeswerk, das Chaos auf den Straßen und damit Sachschäden und Blutvergießen vermeiden hilft. Wenn eine den Radfahrern vergleichbare Zahl Autofahrer sich entschlösse, rote Ampeln ebenfalls zu ignorieren, wären die Straßen Berlins binnen Sekunden unpassierbar, von Sachschäden, Verletzten und Toten ganz zu schweigen. Warum nehm ich mir als Radfahrer heraus, etwas zu ignorieren, was an sich sinnreich und nützlich ist?
Weil ich mir sicher bin, nicht dabei erwischt zu werden. Fast alle Missetaten werden begangen, weil der Übeltäter annimmt, damit durchzukommen. Und als Radfahrer hat man ja beste Chancen, nicht erwischt zu werden. Wenn man nicht direkt hinter der roten Ampel eine Wanne rammt, ist man durch. Und man hat‘s ja eilig, gefährdet letztlich niemanden außer ein bisschen sich selbst…
Aber richtig ist es trotzdem nicht. Scheiße. Der Pedant in meinem Innenohr war geweckt und gab keine Ruhe mehr. Danke, Herr Ude! Ich entschloss mich zu einem kleinen Selbstversuch. Ich fuhr nochmal StVO-verachtend ins Büro, ratterte über Bürgersteige, rote Ampeln und durch Einbahnstraßen, als gäbe es kein Morgen, und stoppte die Zeit. 18 Minuten. Ganz okay, recht zügig sogar, wenn man die Verkehrsdichte bedenkt.
Und am nächsten Tag, so hatte ich beschlossen, würde ich mich testhalber mal strikt an Recht und Ordnung halten, brav auf Straßen und Radwegen bleiben, bei gelb schon anhalten, geduldig auf grün warten… Es war die Hölle. Stundenlang stand ich an roten Ampeln herum, die ich locker hätte überfahren können, um Zeit zu sparen. Dieser Riesenumweg, den ich fahren musste, um die Einbahnstraße zu vermeiden, dauerte eine halbe Ewigkeit, ich hörte die Sekunden und Minuten, die ich auf dem Rad verschwendete, mit ohrenbetäubender Lautstärke wegticken, ich war doch schon mindestens eine halbe Stunde unterwegs, dachte ich, als ich das Büro erreichte und auf die Uhr guckte. 18 Minuten. Gleiche Zeit. Doll.
Das wollte ich nicht glauben. Ich musste beim Nicht-nach-StVO-Fahren irgendwie gehandicapt gewesen sein, schlechten Tag gehabt, schwere Beine… Machen wir‘s kurz: Eine mehrwöchige Testreihe hat eindeutig ergeben, dass man – zumindest auf meiner Bürostrecke – keine Zeit gewinnt, wenn man rote Ampeln überfährt bzw. keine Zeit verliert, wenn man penibel wie ein Erbsenzähler von Kreuzberg nach Friedenau kurvt. Es spielt schlicht und einfach keine Geige: die Zeit, die man an der einen Ampel spart, weil man drüber fährt, büßt man bei der nächsten, wo man warten MUSS, wieder ein. Die ganze Hektik, die die Desperado-Radler betreiben, ist m. E. vollkommen sinnlos. Wobei eins nicht verschwiegen werden darf: Desperadeln macht deutlich mehr Spaß als gesetzestreue Verkehrsteilnahme. Die Zeit an den Ampeln und auf den Umwegen kommt einem schon ziemlich lang vor…

Deshalb meine Frage: Wie seht ihr das mit dem Fahrrad und der StVO?

Also, Butter bei die Fische: Wenn du radfährst, hältst du dich an die StVO oder nicht?

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Foto: andrea müller  / pixelio.de

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3 Antworten zu Desperadeln – die Freiheit auf zwei Rädern

  1. AvatarMichael sagt:

    Ich gebe mir redlich Mühe, mich an alle Regeln zu halten. Schließlich erwarte ich das auch von den „anderen“, also Autos, Bussen und Lkw.

    Aber die Empirie von täglich 30 Kilometer Pendeln von Potsdam nach Berlin zeigt mir auch: Es gibt Ampelschaltungen, bei denen das Überfahren einer roten Ampel anschließend auf 5 Kilometern grüne Welle fürs Fahrrad produziert.

    Und das wurmt mich, denn entweder stehe ich nach jeweils 1,5 Minuten Fahrt 2,5 Minuten lang an der Folgeampel, und beachte Recht und Ordnung. Oder ich ignoriere zwischendurch eine Ampel, wandele damit die fahrradfeindliche Ampelschaltung in eine fahrradgerechtere um, und bin tatsächlich nicht dem vom Autor beschriebenen „Warten an der Folgeampel“ ausgesetzt – zwiespältig.

  2. Avatarseptember-blogger sagt:

    Oh, das ist aber ein Beitrag von verkehrspolitischer Correctness!
    Nach meiner Beobachtung stellen Autofahrer nicht so viele Überlegungen an, wenn sie beim Rechtsabbiegen den Fahrradfahrer übersehen, auf dem Gehweg parken oder die Tempo-30-Zone mit fünfzig durchbrettern.
    Wir Fahrradfahrer mögen ja nicht die besseren Verkehrsteilnehmer sein, aber wir können mit unserem Fehlverhalten keinen großen Schaden anrichten (mal davon abgesehen, dass das Auto schon im Normalbetrieb eine Schadstoffquelle ist).
    Tolles Thema, da kann ich mich so richtig aufregen! Mehr davon!

  3. AvatarCarsten sagt:

    Erfreuliche Durchschnittsgeschwindigkeiten beim Pendeln mit dem Rad erreicht man eigentlich nur, wenn man kaum abbremsen muss. Das klappt eigentlich nur auf ampelarmen Strecken und bei Strecken, wo man wenig Kontakt mit anderen (nicht radelnden) Verkehrsteilnehmern hat. Ich finde es in Rotterdam ganz gut gelöst – da gibt es asphaltierte Fahrrad-Highways bis in die City, wo auch keine Mofas usw. fahren dürfen. Das macht Laune und man ist flott von A nach B. Die reaktivierten Kleinbahntrassen im Ruhrgebiet sind da nur ein zweitklassiger Ersatz, da dort Jogger usw. unterwegs sind und der Untergrund doch recht rau ist – eher was für’s Hardtail als für eine Straßenmaschine.

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